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Montag, 4. Oktober 2021

Ein nächstes Pferd vor Troja (1)

Mit einiger Irritation habe ich das Buch "Aschenblüte" von Immaculée Ilibagiza zugeklappt, und seit Wochen, die schon zu Monaten wurden, überlege ich, was ich dem Dominikanerpater sage, der es mir lieh weil dringlich zu lesen empfahl. Zwar hoffe ich immer noch, daß er es selber nie gelesen, sondern einfach von irgendwem erhalten und (weil ich ihm als einziger Deutscher unter der im Kern immer gleichbleibenden Meßgemeinde eine halbe Stunde vor Mittag eingefallen bin) ohne weiteren Hintergedanken weitergab. Aber das Bedeutungsschwangere, die leuchtenden Augen, die seine Geste begleitete, in der er es mir in die Hand drückte, spricht dagegen: "Sie sollten das lesen," meinte er. Also habe ich es gelesen.

Und es danach in einer Mischung aus echter Sorge und nicht geringem Ärger zugeklappt. Denn was die mittlerweile wohl bald vierzigjährige Immaculée Ilibagiza geschrieben hat macht einen Konflikt sichtbar: Den zwischen einem GESOLLTEN Empfinden, und dem TATSÄCHLICH Gesehenen. Und die Fragen, die aufstehen, sind ganz anderes als die, die im Buch angeblich beantwortet werden. Schon gar die Frage nach Gott.

Die Handlung ist rasch geschildert: Immaculée (das Buch ist autobiographisch), geboren 1972, wird 1994 aus allen Lebensplänen gerissen, in denen sie von Karriere und Wohlstand in Ruanda träumt. Quasi über Nacht fallen die Hutu im ganzen Land über die Volksgruppe der Tutsi her und ermorden, wen immer sie zu fassen kriegen. Das "Ungeziefer" soll ausgelöscht werden. 

Sie hat das Glück, beim Vater einer Freundin, einem Pastor, zusammen mit fünf weiteren Frauen in einer Toilette in dessen Haus ein Versteck zu finden, das sie erst wieder verläßt, als französische Soldaten ins Land kommen, und bei denen sie nächsten Unterschlupf findet. Bis die Tutsi-Armee die, in Uganda aufgestellt vom Norden, Ruanda aufrollt, um die Volksbrüder zu befreien und zu retten, was zu retten ist. 

Aber drei Monate verbringt sie in einer kaum zwei Quadratmeter großen Toilette, zusammen mit sechs und später sogar sieben Mädchen und Frauen, die ihr Retter dort versteckt hält. Diese Toilette entgeht deshalb dem Zugriff der marodierenden Hutuschlächter, weil im Nebenzimmer der Zugang durch einen vorgeschobenen Kasten verdeckt werden kann. 

Gottseidank kommt bei den mehrmaligen Hausdurchsuchu8ngen (die Hutu-Milizen schöpfen zunehmend Verdacht) niemand auf die Idee kommt, zu prüfen, ob die Räume, die durch die von außen sichtbaren Fenster in jedem Fall erkennbar sein müssen, auch alle überprüft worden sind. Ob es also nicht da einen Raum geben muß, der innen "nicht da ist" - die Toilette. Weil der Pastor sich nicht durch große Lebensmittelkäufe verraten will, gibt er ihnen nur ganz wenig zu essen, meist sogar nur Reste des Familienessens, sodaß die Frauen bis aufs Skelett abmagern. Denn er will nicht dadurch auffallen, daß er plötzlich mehr Lebensmittel kauft. Sagt er.

Naja, und dabei ist sie so irgendwie katholisch, hat spirituelles Erleben, in dieser Grenzsituation, in der sie ununterbrochen Rosenkranz betet. Die Toilette ist für die erst sechs, dann sogar sieben Frauen natürlich viel zu klein. Schon darin muß sie viel verdrängen, denn sie können sich nie ausstrecken, und nicht einmal zum Sitzen am Boden ist genug Platz, sie müssen sich ablösen. 

Aber das alles wird schon gar nicht mehr genauer geschildert, alles bleibt grosso modo angedeutet. Sie können sich nie waschen, dürfen nur flüstern, wenn überhaupt, und müssen ständig Angst haben, verraten oder entdeckt zu werden. Dreimal sind die Häscher sogar im Zimmer davor, und man kann sie förmlich spüren, nur wenige Zentimeter durch die Wand getrennt (in Afrika - vermutlich eine simple Konstruktion aus Holzständern 5 x 10 cm im Querschnitt, aus die Gips- oder Holzplatten aufgenagelt werden. (Siehe Einschub ****

Psychologisch wird sie nur beim Pastor. Der ist höchst unfreiwillig und auch ein wenig unwillig zum Helden geworden. Immaculée spricht zwar davon, daß sie ihm ihr Leben verdankt, aber ihr Dank scheint lediglich "geschuldet". Ihr Urteil über seine moralische Qualität fällt aber schon sehr wenig schmeichelhaft für den Retter aus. So nüchtern, daß ich kurz dachte, daß das eigentlich indiskret und undankbar ist. Immerhin hat auch er sein Leben riskiert. Wäre er entdeckt worden - er wäre ohne Zweifel ebenfalls hingerichtet oder gar langsam geschlachtet worden, wie es sonst so oft geschah. Während man die Frauen vergewaltigte, tötete oder zu Tode folterte.

Als schließlich die Entdeckung droht - in immer kürzeren Abständen kommen die Durchsuchungen - und eine Soldateneinheit Franzosen (wenn auch nur für wenige Tage) in der Nähe ist, drängt er die Frauen, das Versteck zu verlassen. Nachts brechen sie auf. Als bei der Hälfte der Strecke Hutu-Trupps sichtbar werden, verläßt der Pastor und sein Sohn die Frauen, und überläßt sie ihrem Schicksal. Immaculée betet sich aber auch durch diese Gefahren. Und Gott hilft, sagt sie. Die Hutus scheinen sie "nicht zu sehen", als sie ganz normal vorbeigehen.

Zusammen mit ihrem jüngsten Bruder, der nicht im Land ist, ist sie - alles das ist von Gott geführt, wie sie sagt - die einzige Überlebende ihrer einst großen, relativ wohlhabenden Familie, trifft bei der UNO, die sie (bei leicht vorgetäuschten Englischkenntnissen) anstellt, ihren späteren Mann, und lebt fortan in den USA. Wo sie in Vorträgen und Publikationen "die Geschichte des Völkermords an den Tutsi" vor dem Vergessen retten, aber auch eine Art "Christliches Vergeben" vorstellen will, das sie an sich für exemplarisch hält. Heute hat sie zwei Kinder, betreibt die Stiftung "www.lefttotell.com", und "hat allen verziehen". OBWOHL ... Dieses Obwohl beschreibt sie in "Aschenblüte".

Wobei - real geschrieben hat es ein Ghostwriter. Der sogar seinen Namen im Buch hinterließ, samt einem Begleitwort, denn er ist angeblich als solcher sehr bekannt, Steve Erwin. (Siehe dazu Einschub*)

Ich erwähne das hier, das auf den ersten Blick wie noch so manches nun Folgende so erscheinen mag, als hätte es mit dem Buch gar nichts zu tun, nicht ohne Grund. Weil es die autobiographische Erzählung einer (damals) 22jährigen Frau - gefühlt aber eines 17-, 18jährigen Mädchens, während des Lesens habe ich nie das Gefühl, eine erwachsene Frau, sondern ein Kind oder eine Jugendliche vor mir zu haben, wie es mir generell nicht so recht gelingen mag, einen ordnenden Überblick über sie und ihr Leben zu gewinnen - die Elektrotechnik und Maschinenbau (sic!) studiert hat, noch seltsamer, noch (ich gestehe) abstoßender machen könnte, als es der Sache vielleicht zukommt. 

Und ich räume Immaculée ein, daß sie diese mehrfache Brechung (es kommt ja noch die Übersetzerin dazu, Maria Zybak) ihrer Darstellungen nicht einschätzen konnte. Denn schon das Englische ist ja nicht nur nicht ihre Muttersprache, sondern sie hat es erst jüngst gelernt.

Gelernt, wie sie schreibt, in den drei Monaten, die sie während des bei uns noch immer viel zu wenig bekannten Völkermordgeschehens in Ruanda in der Toilette eines Pastors einer evangelikalen Gemeinde versteckt gehalten wurde. Als Tutsi (und noch dazu, wie sie schreibt, als knackiges Mädchen, dessen "Schönheit" überall in ihrem Heimatdorf gerühmt war) gehörte sie jener Volksgruppe an, die in den Massakern von 1994 von der Bevölkerungsmehrheit der Hutu ausgerottet werden sollte. 

Die Hutu stellten seit je die Bevölkerungsmehrheit in dieser ehemaligen Kolonie. Die in diesem Teil ihrer Geschichte von französischer zu deutscher zu englischer und schließlich belgischer Hand gewandert war, ehe das Land, das zuvor als Teil von "Ostafrika" bezeichnet worden war, 1962 als "Republik Ruanda" in die Freiheit entlassen wurde. Heute hat Ruanda, das von Kennern als einer der schönsten Flecken der Erde bezeichnet wird, gut 12,5 Millionen Einwohner, und somit bei einer Staatsfläche von nur 26.500 Quadratkilometern eine Bevölkerungsdichte von fast 500 pro Quadratkilometer. Diesen Parametern nach kann man es also mit Belgien vergleichen. 

Und es gibt noch einen Grund, warum man es mit Belgien vergleichen kann: Beide Länder haben zwei Bevölkerungsgruppen, die sich nicht gerade lieben. In Belgien sind es die germanophilen Flamen vs. die frankophilen Wallonen, jede Gruppe mit ihrer eigenen Sprache. (Das Detail, daß die Franken/Franzosen der größte und vielleicht wichtigste - Salier! - Germanenstamm gewesen sind, ersparen wir uns.) In Ruanda sind es die Hutu vs. die Tutsi, auch hier mit unterschiedlichen Sprachen. Das Suaheli gilt lediglich deshalb als Amtssprache, weil es eine Kommunikation ermöglichen soll. (Siehe dazu Einschub**)

Auf den ersten Blick irritierend ist, daß beide Völker von christlichen Missionaren zum Christentum geführt worden waren. Der weit überwiegende Teil der Ruander ist christlich, etwa je zur Hälfte katholischer und protestantischer Denomination. Nur wenige folgen noch Naturreligionen, und nur zwei Prozent der Bevölkerung sind muslimisch. (Das vorbeugend gesagt, denn ich habe auch schon gelesen, daß es sich ein Pogrom um "Islamismusauswüchse" gehandelt habe. Das ist natürlich ein Unsinn.)

Daß das die Sache noch seltsamer macht scheint aber niemanden zu stören, denn eines taucht nie auf, auch nicht in "Aschenblüte": Die Frage nach dem WARUM. Nicht, weil es das Geschehen rechtfertigen könnte. Eine Million Menschen, die bislang mehr oder weniger friedlich mit mir in einem Land gelebt haben, mit allem was einem in die Hände kommt, allem voran Macheten, regelrecht abzuschlachten, kann nie "richtig" sein. Nicht nach christlichem Verständnis, das eine IN SICH SCHLECHTE TAT kennt. 

Aber es kann moralisch gerechtfertigt werden, wenn man der Moral prinzipiell eine subjektive Quelle zugesteht, wie vor allem die "guten Menschen" meinen. Die nicht selten ihren subjektiven Aufruhr zum Guten hin mit dem Widerstand gegen das systemische Böse begründen. Wenn aber nur das "Gefühl" sagt, was richtig oder falsch ist, dann verschiebt sich allmählich jeder Maßstab, auch der der sich momentan noch "gut" vorstellt, und erreicht vor allem rasch die Grenze, wo die Moral unterschiedlicher Menschen sehr unterschiedlich und vor allem unvereinbar und widersprüchlich ausfällt. Und sich vor allem (schleichend, fluent) mehr verändert, als den mitten drin Steckenden je klar ist.

Noch einmal. NICHT nach christlichem Verständnis, wo etwa der Mord immer verdammenswert ist. Aber nicht jede Tötung ist eben Mord, das wird oft vergessen. Ein menschliches Leben ist kein absoluter Wert. Absolut und erstes Ziel JEDES menschlichen Lebens ist die Heimführung zu Gott. Und da kann auch eine Tötung (wie bei der Todesstrafe) als Sühne, also als Lösepreis für eine mögliche Erlösung (die nur durch Christus selbst geschehen kann) zu bezahlen sein. Weil diese Sühne in einem "adäquaten Schmerzverhältnis" zur Tat stehen muß, um einer Gemeinschaft, die man DURCH die Tat verlassen hat, durch einen dem zugefügten Schmerz ADÄQUATEN Schmerz wieder beizutreten.

Werter Leser, er muß sich gedulden. Diese Vorarbeiten sind wichtig, will man der Lösung der Frage, die mir der Pater eines Tages (fürchte ich) stellen wird, näherkommen: "Wie war das Buch?" Denn ich kann die Erwartungshaltung, daß es "Super! Toll!" oder, noch schlimmer, aber genau das vermute ich, weil dieser Pater (ohne daß ich bisher mit ihm viel gesprochen hätte, aber ich schließe aus seinen Handlungen, aus seiner Art, wie sie mir erkennbar wurde, darauf) einen gewissen "charismatischen", also "subjektivistischen" Charakterzug hat. Ich sage bewußt "Charakterzug", nicht "Glaubenszugang" oder ähnliches. Das eine ist zuerst, und formt dann das andere so, wie es jedes Glaubens- oder Weltanschauungssystem formieren würde. (Denn es ist immer erst die unmeßbare, aber dem Absoluten entstammende Qualität, dann das inhaltliche, materiale Füllmaterial, das die Welt macht.)

Mit diesem Hinweis kommen wir der Sache nun auch näher. Denn dazu muß man wissen, daß dieser Subjektivismus, in dem das Erleben in jedem Fall für fähig und tauglich hält, ein jedes Dogmatische übertreffende, ja umändernde Erfahren "Gottes" - als direkte Aussage AN MICH, ohne Vermittlungsweg der Priester und der kirchlichen Hierarchieordnung - auch das Kernproblem von Immaculée Ilibagiza ist. Sie stellt sich so dar, sodaß aus dem, was sie über sich und ihre "Gotteserfahrung" während dieser (unzweifelhaft war sie das) Zeit der Verfolgung schildert, auch dieser Größenwahn, dieser Hochmut erkennbar wird, der sie explizit in besonderen Begnadungen einer in Charismen begründeten "deutlich erlebbaren Beziehung zu Gott" zeigt.
Denn darum geht es in "Aschenblüte" von Immaculée Ilibagiza, nur darum. Denn erfährt man viel über das Geschehen IN RUANDA während dieser Zeit des Ausbruchs eines historisch gewachsenen Hasses? Nein. Erfährt man viel über Ruanda selbst? Nein. Erfährt man viel über politisches Geschehen, über das System, über Reaktionen anderer Staaten, ja über militärische Operationen, in denen die Hutus schließlich besiegt, das Morden beendet wurde? NEIN. 

Ja was erfährt man überhaupt? Das, warum der Pater es mir vermutlich mit den Worten gegeben hat, daß "ich es lesen solle." Als Zeugnis einer als solcher titulierten Gotteserfahrung, und nur als das. Als Zeugnis eines gewissermaßen "inneren Erlebens", vor dem die äußeren Geschehnisse fast völlig verschwinden.

Morgen Teil 2) Die Frage nach dem WARUMDie Tutsi sind bei den Europäern beliebt, weil sie wie sie sind: Wurzellos, leistungs- und geldorientiert. Protestantisch, nicht christlich. Protestantisch wie das Katholische an Immaculée.