Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 31. Oktober 2021

Gedankensplitter (1355b)

Flugsand und Perspektiven. Die Volksstimme. - Diese seinerzeitige Wochenzeitung der Kommunisten Österreichs (ich hatte sie jahrelang abonniert, ah, jetzt weiß ich es wieder, eine Bestellkarte, die mit besonders günstigen Studenten-Abos warb, war den Unterlagen beigelegen, die ich bei der Immatrikulation in Graz erhalten hatte) war ja billig gewesen. So wie alles billig war, was in deren Verlag entstanden ist nur das Parteiorgan der Kommunisten. (Siehe Anmerkung**)

Woher auch immer, ob aus Wien, Moskau, Berlin, Bucuresti oder Budapest, Druckwerke dieser Provenienz waren untereinander absolut ähnlich. Sie rochen sogar gleich. Wie meine Marx-Lenin-Übersichtswerke, die stehen noch heute in meiner Bibliothek (und riechen noch immer stark, wenn man sie aufschlägt). Sie sind aber wenig wert, wie ich oft genug gesehen habe, daß allen diesen Ausgaben oft die interessantesten Stellen und Schriften ... fehlen.

Jedenfalls leistete sich dieses Druckwerk einer Wochenzeitung mit dem Selbstverständnis eines Parteiorgans mit einer "verkauften" Auflage von 4.000 oder 5.000 Exemplaren (Mitgliedschaft in der KPÖ schloß ein Abonnement im Jahresbeitrag mit ein) den unfaßbaren Luxus, über dessen Sinn scheinbar niemand auf konservativer Seite nachdachte, dutzende Ausbildungsstätten für Journalisten zu bieten. Vor zwanzig, dreißig Jahren gab eine Untersuchung. 
 
Es stellte sich bei der a.a.O. genannten Erhebung heraus, daß zwei Drittel der österreichischen Journalisten entweder bei der Volksstimme oder bei eben der Blätter der SPÖ ihren Beruf gelernt hatten. Sämtliche dieser Blätter sind freilich heute aus denselben Gründen wie die Volksstimme eingestellt: Mangel an Leserschaft. 

Auch also bei der SPÖ, die bis 1990 in ihrem Programm noch klar formuliert hatte, daß sie sich nach den Lehren des Marxismus ausrichte. Über Nacht war das verschwunden, und der Name von "Sozialistische Partei Österreichs" auf "Sozialdemokratische Partei Österreichs" geändert. Aber ihre Journalisten sind bis heute tätig. Auch bei sämtlichen bürgerliche(re)n Medien. Noch Fragen dazu, warum die Medien SÄMTLICH rot sind?

Nun begab es sich, da ich einmal zum seinerzeit legendären "Volksstimme-Fest" in Wien eingeladen wurde. Diese Einladung lief über einen Anwalt, mit dem ich beim Militär gedient hatte, und der zum "Freund" geworden war, wie er selbst sich nannte (ich habe noch ein Brieflein von ihm, in dem er so schließt: "Dein Freund ..."). Immerhin hatte er sich von mir abgekupfert, wie man sich vom Militärdienst freischwindeln konnte. 

Das muß also im Sommer 1982 oder 1983 gewesen sein. Wir trafen in der Dämmerung in Wien ein. Aber erst nach und nach kamen die Besucher in größeren Mengen. Niemand hatte uns gesagt, daß es erst später "eigen" wurde.

Auch diesmal wurde es Mitternacht, und die Nacht war so seltsam schwarz - ich erinnere mich noch heute (!) an dieses nie zuvor und nie danach gesehene Schwarz da oben in den herrlichen Laubwäldern am Rande Wiens - bis an den Lagerfeuern die alten Kampfgesänge erklangen. Deren Texte die Älteren gut kannten, fast alle konnten sie mitsingen.

Darunter der Sohn des bekannten "Konvertiten" Ernst Fischer. Ich war am Morgen in seinem Haus, irgendwo in einer der besten Wohnlagen Wiens, ich glaube es war Döbling. Das Haus hatte ich augenblicklich geliebt, weil es vom Keller bis zum Dach vollgestopft mit Büchern war. Ernst Fischer war zweifellos ein "homme d' lettre" von Format. Der sich in den 1950ern, als die Greuel Stalins nach seinem Tod 1953 - im selben Jahr noch fand der erste Aufstand in der DDR statt - bekannt wurden (oder war es nach dem Ungarnaufstand 1956? Im Jahr zuvor hatten die Sowjets als Besatzungsmacht Österreich verlassen). 

Oder war es erst 1968, nach dem Einmarsch in der CSSR?) daß er sich von der KPÖ abgewendet hatte, die immer betont Moskau-treu blieb? Fischer hatte seine Konversion seinerzeit in einer aufsehenerregenden Autobiographie kundgetan. Ich erinnere mich auch daran noch gut, daß mein Freund mir mit dieser Erzählung alles Geschehen an diesem Morgen in ein geheimnisvolles, schweres Licht stellte. Die Gerüche, das weiße Licht des frühen Wiener Sommermorgens, alles war triefend naß von dieser Schicksalsschwere. Die Möbel, der Einbauschrank im Schlafzimmer, die Küche, die zahllosen Bücherregale und -verbauten, das ganze Haus schien mir ... weiß. Genauer: Elfenbeinweiß.

So richtig gemütlich wurde es stets ja erst um Mitternacht, und meine Freunde drängten zu bleiben. Das Angebot stand, daß wir bei einem von ihnen übernachten konnte, zumindest bei dem Rechtsanwaltsaspiranten, der mich eingeladen hatte, und zu diesem Fischer-Kreis gehörte, wie ich feststellte. Auch das fällt mir jetzt auf, daß viele der Kommunisten dieser meiner damaligen Sphären Absolventen von Rechtsstudie waren.
 
Ministranten, unerfüllte Priesterberufungen, Kommunisten, Anwälte - Das Schicksal der geburtenstarken Jahrgänge.
 
Die Verhütungswelle der 1960er kam gerade noch rechtzeitig, um die Priesterschwemme der Kirche zu verhindern. Und sie schaffte es, und wie! Erst in Holland, dann in Österreich.

Zurück zum Volksstimme-Fest, an jenem Abend 1982 oder 1983 ... Nach und nach nahm die Stimmung an den Lagerfeuern einen bestimmten Verlauf. Mir kam vor: Es wurde ernsthafter. Und offener, ehrlicher. Ich begriff. Darauf beruhte der "legendäre Ruf." Viele waren überhaupt erst jetzt gekommen. Die gesteigerte Stimmung zeigte sich alsbald in den Liedern. Verdammte dieser Erde, steht auf, greift hoch, vertreibt die Ausbeuter, hängt sie an die Masten, die Eure wunden Hände unter Schweiß und Hunger aufgerichtet haben, um eure Luxus-Villen und Millionärs-Paläste zu beleuchten, klang es dann in die Nacht.

Einige hatten Gitarren ausgepackt und konnten meist leidlich spielen. Andere schleppten Äste heran, irgendwoher waren Äxte aufgetaucht, mit denen halbe Bäume geschlagen wurden, um die großen Feuer zu nähren. Die Lieder wurden hymnischer, der Kreis begann sich zu schließen, der sich um ein großes, zentrales Feuer zu bilden begonnen hatte. War nicht Karfreitag? Es verbindet sich in meiner Erinnerung.

Alles schien sich auf einen Punkt hin zu steigern, und der schien erreicht, als die Hymne "Schlagt die Pfaffen toooohooothot" erklang. Alle fielen begeistert ein.

Außer mir. Mir war es nun doch genug. Ich verstand mich damals zwar als Nihilist, aber solche Texte zu singen schien mir wie Verrat an mir selbst, als Schändung der Bilder meiner Vergangenheit. Der Dechant war zu echt gewesen, der beim "Ecce lignum Christi, venite adoramus" zu Boden gefallen war, während hundertzwanzig Ministranten (einer davon ich) den Weg vom Eingangstor zu den Altarstufen säumten, und die zum Bersten gefüllten Kirchenraum ergriffen eistimmte. Venite adoremus. Mysterium crucis.

Ich habe mich mit diesen damaligen "Freunden" nie mehr wieder getroffen. Das ging aber von beiden Seiten aus. Sie haben auch bei mir etwas gespürt. Ich erinnere mich noch gut an die Blicke dieses "Philipp." Er hatte uns nicht einmal ein Frühstück angeboten, und mir war damals erschienen, daß es aus Geiz und Mangel an Höflichkeit geschehen war. Meine Freunde (auch damals gab es Freunde auf dem Konsensniveau von Facebook-Friends, aber immerhin waren damals alles noch persönliche Kontakte) hatten abseits kurz getuschelt, ich erinnere mich noch gut. Ihren Blicken war zu entnehmen, daß sie sich nichts mehr von mir versprachen. Da war jedes Semmerl vergeudet. Die Autobahn war noch leer, als wir in die Provinz zurückfuhren. In den frühen 1980er Jahren fuhr noch niemand am Sonntagvormittag auf die Autobahn.


*290921*