Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 7. Oktober 2021

Ein nächstes Pferd vor Troja (4)

Der Pogrom an den Tutsi war zwar nicht rechtfertigbar. Aber er ist verstehbar. Und das ist die Voraussetzung für ein Verzeihen. - Ja, es gab schon Spannungen, ja, es gab schon einmal gefährliche Verfolgungen durch Hutu, und die Älteren hatten das auch nicht vergessen, ja es gab Spannungen, aber NICHT bei ihr, nicht bei den Eltern, die unterschiedslos auch Hutus halfen (beide waren Lehrer, offenbar gut bestallt und bezahlt und in leitenden Stellungen, mit scheinbar nicht unerheblichem Grundbesitz, einem großen Haus, und vier Kindern, drei Söhnen und dieser einen Tochter.

Die Massaker überlebte nur ein Bruder, der (sic!) in Westafrika, fünftausend Kilometer entfernt, studierte. Wo erwähnen wir gar nicht, weil alle solche Realia in den Schilderungen der Tutsi kaum Erwähnung finden und unbedeutend sind. Alles schwebt eineinhalb Meter über dem Erdboden, und einer ihrer geschilderten festen Träume ist ja sogar, in einem fliegenden Teppich durch die Welt zu fliegen. Das erzählt doch alles? Wie überhaupt das, was man aus diesem Buch gewinnen kann, wenn man konzentriert sucht, in den Leerräumen zu finden ist, nicht in den Zeilen. 
 

Und diese Inhalte widersprechen sich. Gegen alles offensichtliche Wollen und Behaupten bleibt alles emotionslos, fast monoton, wie in einer Seelenstarre vereist. Doch Folge eines Traumas? Dann ist aber ihre Geschichte als exemplarische Vergebung ganz einfach um drei Stufen zu hoch angesetzt. Ein Traumatisierter kann nicht vergeben. Er verdrängt. Das hat seinen Wert, zweifellos, aber es ist kein Vergeben.

Wenn man also die Unfähigkeit dazu als Folgewirkung der Erlebten nehmen will, bleibt alles verstehbar und menschlich. Aber warum betont sie dann so hartnäckig, daß sie allen 'verziehen' habe? Ja es ist sogar die eigentliche Absicht, schreibt sie (oder wer in dieser Kette von Schreiberlingen?) daß sie ein Vorbild dafür sein möchte, wie man verzeihen könne. Das ist der "besondere Ertrag" des "Gotteserlebnisses", zu dem sie das ihr und speziell ihr Widerfahrene weil überhaupt ihr (besonderes; solche Erlebniskonstellationen finden sich immer bei Menschen, die "besonders" sind) Leben macht.

Obwohl sie natürlich nie mehr nach Ruanda fahren möchte. Warum auch, sind doch sämtliche ihrer Verwandten tot. Außer ihr Bruder, aber selbst der leider nicht ihr Lieblingsbruder. Der aber geht nach absolviertem Studium nach Ruanda zurück, und arbeitet dort als Ingenieur. 

Oder folgt er ihr nach den USA? Es spielt keine Rolle. Und den Gefallen, aus diesen wenigen Brocken des "harten Faktenerzählens" das Tragegerüst einer vollwertigen Geschichte zu machen, tun wir der Erzählerin nicht. Egal, ob die mit der "Immaculée Ilibagiza" identisch oder nur die Figur des (dann vielleicht sogar von der Geisteskrankheit der UNO, in der auch die gewaltsamste Neutralisierung als "Frieden" ausgegeben wird, durchpulste) Ghost Writers ist, mit der dieser das Geschehen künstlich "deutet". 

Wobei die Deutung natürlich von vornherein klar ist: Der Massenmord an fünfhunderttausend oder einer Million (die genauen Zahlen weiß man bis heute nicht, sie schwanken von 300.000 bis zu über einer Million), den ein bis zur Weißglut aufgepeitschtes Volk, die Hutu, begangen hat, läßt nur Empörung und Verurteilung zu, was sonst. Jeder Versuch, das zu verstehen ist da schon unmoralisch.

Erinnert uns das nicht an etwas? Immaculée provoziert, daß man sich solche Fragen stellt. Nie kommt eine Frage oder Antwort, WARUM die Hutu "plötzlich" alle Tutsi hassen. Alles ist eine Geschichte ihres Meisterns, in dem sie Gott auf besondere Weise führt. Oder ist sie es, die sich alles gut vorstellt? Sicher kann ich es nicht sagen, es bleibt ein fumus von "auserwählt", vor allen übrigen Frauen ausgezeichnet. Die weniger als sie können, zumindest das. Ob auch die beten oder fromm oder mit Gott verbunden sind, so wie sie, wird mit keinem Wort erwähnt. 
Ja, es ist überhaupt so etwas wie der Grundtenor der gesamten Geschichte: Sie ist eine Auserwählte, die über allem steht. Und damit natürlich auch über jeder Dogmatik. Die verschwimmt zu einer Art Synkretismus oder Ökumenismus, wer weiß
Die ganze Welt hat die Tutsi den Hutu überlassen, das muß man so sehen. Hier hätte naturrechtlich-völkerrechtlich sogar eine Pflicht zum Eingreifen bestanden, zumal sogar UN-Truppen im Land gewesen waren. Die aber bei Ausbruch des Mordens abzogen! Ein Trauma für die Zurückgebliebenen, keine Frage. Nicht nur ein Drama. Eine Hölle, ganz sicher. 

Mitten durch die Gesellschaft brach in rasender Geschwindigkeit ein Riß, der im Alltag - angeblich, aber ich glaube das nicht so recht, was Immaculée da schreibt, und warum hätten UN-Truppen bereits im Land gewesen sein? Da muß mehr Schwelbrandrauch in der Luft geschwebt sein, als Immaculée gerochen und gesehen hat! - wenig oder keine Rolle gespielt hatte. Wer ist Tutsi, wer ist Hutu? Es war fast gleichgültig, und man hatte Freunde hier wie dort. 

Sagt Immaculée. Aber ich habe meine Zweifel an so mancher ihrer Schilderungen. Hat sie nicht nur - auch hier also - in einer Blase gelebt, in der sie eineinhalb Meter über dem Boden der Realität geschwebt ist, wie sie jetzt mit ihrem "Glauben" schwebt? Denn dann wieder schreibt sie schon, daß Heiraten über diese Stammeszugehörigkeiten hinaus selten waren. Also hat es doch eine Rolle im Alltag gespielt, und zwar mehr als sie wahrnehmen wollte!

Alles verstehen heißt, alles verzeihen. Dieser dem Leser sicher bekannte Satz hat so seine Richtigkeit. Weder kann man etwas verzeihen, das weiterhin an einem begangen wird, noch etwas, das man nicht versteht, denn WAS will man dann verzeihen? Wo ist der Mensch, DEM man verzeiht, wenn ich ihn nicht sehe? Immaculée Ilibagiza schreibt ihre Geschichte in Ruanda 1994 als betont christlich sein sollendes Zeugnis, daß Verzeihen selbst der größten Untaten möglich ist. Denn sie habe verziehen.

Aber hat sie verstanden? Was sieht sie in Ruanda? Was will sie den Hutu verzeihen? Das wird ebenso wenig klar wie in "Aschenblüte", ihrem Buch über die Ereignisse 1994, vieles an ihrem konkreten Leben in diesem Ruanda, das "über Nacht" - dem Leser wird überhaupt nicht klar, warum das ausgebrochen sein könnte - durch einen furchtbaren Genozidversuch der Hutu von Haß zerrissen wird. In einer seltsamen Mischung aus Esoterik und irrationalem Liebesgetue verschwimmt einem alles, wenn man die Geschichte liest. Und es bleiben Widersprüche und Einsprüche, was am Weg der Autorin beispielhaft und christlich, ja katholisch (sie ist katholisch getauft) ist.  

Nimmt man diese Geschichte aber als "Vorbild", schleust man es gar als katholische Spiritualität ins Glaubensleben der Menschen ein, schleust man ein nächstes trojanisches Pferd ein. 

Was die Ruanderin als Erlebnisse mit Gott vorstellt, erscheint eher als psychogen, wenn nicht sogar dämonisch, gerade in der verwendeten undifferenzierten Spiritualitäts- und Gefühlsrhetorik. Die wie ein Aufruf wirkt, alles Verstehenwollen, alles Erkennenwollen über Bord zu werfen, um einer Praxis beizutreten, in der Glauben und Erkennen zu einem diffusen "Lieb sein wollen" verschwimmt, die "Orthopraxie" jede "Orthodoxie" ersetzt. Das ist nicht katholisch, das ist nicht christlich, und das ist in keinem Fall anzuraten. Und das Buch weiterzugeben, um es als autoritativen Weg des Lebens mit Gott vorzustellen, ist ein bedenklicher Mißgriff. Mit Geist und Gott hat das nichts mehr zu tun. 

Das einzige, was mir nach der Lektüre und wochenlanger Ratlosigkeit aufgestanden ist, ist das Bedürfnis, die Hutu, also die Bösen", zu verstehen. Und ich meine gar, so manchen Hinweis auch in diesem Buch gefunden zu haben, WIE man diesen Ausbruch 1994 verstehen - und verzeihen kann. Indem man auch an die eigene Brust schlägt und Ursachen findet, die durchaus im eigenen Verantwortungsbereich liegen. 

Wieviel mehr sollten sich deshalb auch die Tutsi an die Brust schlagen! Der Ausbruch des Hasses der Hutu kam nicht überraschend aus dem Dunkel der Nacht. Er hatte ganz gewiß tiefe Gründe, die sehr wahrscheinlich im Fehlverhalten der Tutsi ihre Wurzel haben. 

Aber dafür fehlt offenbar bei Immaculée Ilibagiza jeder Ansatz. Die sich in der Rolle des Opfers genügt, wenn nicht gefällt. Eine Position, in der man gerne glaubt, daß es keiner weiteren Erklärung mehr bedarf, denn man hat ohnehin IMMER RECHT. 

Damit aber fehlt auch jeder Ansatz, der ihre Behauptung, allen verziehen zu haben, glaubwürdig sein läßt. Vielmehr wirkt die Autorin, als wäre ihre Strategie die einer Selbstvernebelung, und ihr behaupteter aufgezeigter Weg der, den anderen in diesen Nebel mitzunehmen.


Morgen Teil 5) Dafür haben wir noch einen ganz besonderen Blick auf das Ruanda der Gegenwart. Denn Ruanda 1994 = Deutschland 1945.