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Mittwoch, 6. Oktober 2021

Ein nächstes Pferd vor Troja (3)

Der Haß auf die Schöneren ist uns bekannt. Dafür kann ein Hutu schon morden. Denn die Tutsi sind bei den Europäern beliebt, weil sie wie sie sind: Wurzellos, leistungs- und geldorientiert. Und schöner als die Breitnasenaffen, die sowieso ihr Recht - auf alles - im Blut der Opfer ertränkt haben. - Die Tutsi, dieses kainitische Volk der Jagd und der Stadt, konnten mit den europäischen Normen und Vorgaben einfach besser umgehen. So wie jedes entwurzelte Volk, jeder entwurzelte (universalistische) Mensch das eben "kann". Als Arrangement mit dem Zerfall, so muß man es bezeichnen, das jedem verwurzelten Menschen, der sich auch in seinem Volk verwurzelt sieht, in seiner Sprache, seiner Geschichte, seine Art und seinem Aussehen.
 
Ihnen stehen die Hutu gegenüber. Und die Tutsi und die Hutu unterscheiden sich deutlich im Aussehen, Immaculée schildert es immer wieder: Die Hutu erkannten die Tutsi deshalb sofort, und letztere konnten sich nicht "in der Masse" verbergen. Sie waren durch ihre Größe, ihre athletische Gestalt, ihre nach europäischem Begriff schöneren Gesichter weil nicht breiten Nasen von Hutu zu unterscheiden. Und sie waren (aus alle den schon genannten Gründen) im Durchschnitt gebildeter. Sie hatten damit im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil in Ruanda einen weit überproportionalen Anteil an Bildungsberufen und generell an Autoritätsstellungen. Ich gebe hier nur wieder, was Immaculée schreibt. 
 
Die Hutu waren deshalb - das schreibt Immaculée aber schon nicht mehr - für die Hutu nach 1962, nach der Unabhängigkeitserklärung, im Zuge der allmählichen Demokratisierung in der Mehrheit. Und hatten durch die Segnungen der Demokratie, wo Quantität plötzlich zum entscheidenden Kriterium wird, in der Machtposition. Mehr als ein Jahrhundert, das sie als Bedrückung durch ein fremdes Volk und eine fremde Kultur empfunden haben, ging zu Ende, das Blatt wendete sich: Nun waren sie endlich am Zug. Die aus der Vergangenheit aufgestaute Spannung begann sich zu entladen.
Der wahre Hintergrund der Pogrome von 1994 war ein über einhundert und mehr Jahre unterdrückter Konflikt zwischen zwei Kulturen, Lebensweisen und Wertesystemen, also Völkern. Die künstlich und durch kolonialistische Willkür zu einem Staat zusammengeschlossen wurden. 
In denen die Tutsi, solange Ruanda unter dem Regime der Kolonialmächte stand, klare Vorteile hatten. Eine Spirale begann sich zu drehen. Moderner, gebildeter (nach europäischen Vorstellungen), aufgeschlossener, mehr in Autoritätsstellungen, mehr Macht ... 
Aber ist das alles wirklich christlich, gar katholisch? Sieht man denn wieder einmal nicht, daß ein Berufen auf "christliche Werte" alleine keine Lebensweise ergibt? Das Christentum ist doch nur Be- und Verstärkung und darin Hebung einer bereits vorhandenen (im Wesentlichen: Traditionellen) Lebensweise! Ja, das christliche Menschenbild FORDERT sogar die Verwurzelung in einer genuinen Kultur. Eine universalistisch aufgefaßte christliche Kultur ist explizit abzulehnen - weil es sie nicht gibt.  Ein Wort von Graham Greene über den Schriftsteller umgewandelt: Es gibt keine katholischen Völker. Es gibt nur Völker, die katholisch sind.
Der Hl. Papst Leo XIII. hat in der Enzyklika Testem Benevolentiae nostrae dieser "vergessenen Häresie" des Universalismus lehramtlich verurteilt. Der im "Amerikanismus" immer deutlicher sichtbar und "kulturprägend" sein wollte (und im 20. Jahrhundert auch wurde), diese Spezifizität aber zugleich zur Verbindlichkeit, ja zum messianisch verbreitenden Paradies selbst erhob. 
Eine Kulturform der Anti-Kultur, die das Christentum mit einer kapitalistischen Lebensweise und liberalen Wertewelt gleichsetzt, das Kreuz zur Legitimierung und Autorisierung mißbraucht, aber den Menschen fundamental schädigt.
Immer wieder kam es zu Ausbrüchen, auch von Gewalt, gegen Tutsi im Einzelnen wie (allmählich mehr und mehr) im Ganzen und deren (so empfundenen) Arroganz, deren Vorteile (weil sie west-affiner waren, also in Parametern wie Bildung, akademischen Titeln, einfach und typisch kapitalistisch-skrupelloser Cleverness auf allen Gebieten) und besserer gesellschaftlicher, als ungerecht erworben empfundener Stellung. 

Schließlich kam ein Hutu-Regierungschef an die Macht, der diesem Verlangen nach Korrektur und - ja, auch das - Rache für erlittene Demütigungen nachzugeben begann, bis die Situation eskalierte. In einem regelrechten Aufruf zum Pogrom explodierte 1994 der über ein Jahrhundert lang aufgeheizte Kessel. 

Aber von alledem schreibt Immaculée Ilibagiza nichts. Das historische Gerüst wird nur rudimentär angedeutet. So kommt dann auch das Geschehen, das sie fast wie ein Martyrium zu werten scheint (denn ihre - offenbar recht wohlhabenden - Eltern haben doch so viel Gutes getan, waren doch so gute Menschen), wie aus dem Nichts. 

Morgen Teil 4) Der Pogrom an den Tutsi war zwar nicht rechtfertigbar. Aber er ist verstehbar. Und das ist die Voraussetzung für ein Verzeihen.