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Sonntag, 28. Juli 2013

Alles will es selbst bleiben

Als eine der entscheidenden Funktionen aller lebendigen Organismen sieht Heinz Dotterweich das Beharrungsvermögen an. Darunter ist zu verstehen, daß ein Organismus alles daran setzt, auch bei veränderten Umweltbedingungen - er selbst zu bleiben, und auf bekannte Weise zu funktionieren. Würde ein Organismus sich beliebig veränderten Umweltbedingungen anpassen, so würde er binnen kürzester Zeit "ein Raub" dieser Bedingungen. Nur solche ursprünglichen Lebenssysteme können sich erhalten, die nicht auf jeden Reiz hin ihr gesamtes Gefüge entsprechend ändern. Nur so können sie ihr eigenes Gleichgewicht halten.

Leben heißt immer, daß zumindest ein Teil der elementaren Funktionen in einem Organismus (aber auch einer Biozönose, also einem mehrere Organismen und Faktoren einschließendes Lebensganzes) gleich bleiben kann.

Als mit zu den wichtigsten Ausprägungen dieses Beharrungsvermögens sind dabei das Gedächtnis und die Vererbung anzusehen. Beide Richtungen sieht Dotterweich als Spezialisierungen dieses Strebens, das abstrakt natürlich nirgendwo vorkommt. Ja man kann die Vererbung (ähnlich dem Gedächtnis) direkt als ein Verharren im Wechsel aller organischen und anorganischen Umweltänderungen ansehen.

Ändern sich Einflußfaktoren von außen auf Dauer, dann erfolgt zwar tatsächlich ein (Teil-)Anpassungsverhalten, aber dieses muß so gesehen werden, daß TROTZ der geänderten Bedingungen die ursprünglichen Funktionen aufrecht bleiben können. Solche Anpassungsprozesse dauern dabei sehr lange, und erstrecken sich praktisch immer über viele Generationen, die das Beharren am alten Zustand anhält.

Der Nobelpreisträger Jacques Monod ist in "Zufall und Notwendigkeit" sogar zur für ihn erschütternden Erkenntnis gekommen (Monod war Nihilist, dem wenigstens die Entwicklungstheorie etwas Sinn versprach, bis er auch das fallen lassen mußte), daß Gene prinzipiell invariant sind, daß also ein Organismus (und selbst ein anorganisches Gefüge) über wesenseigene Grenzen hinaus überhaupt nicht veränderbar IST. Alle Entfaltung in der Natur ist nur die Spezifizierung von Vorhandenem. Ein mechanistisch-progressiver Weltaufbau ist also ohne Hinzukommendes gar nicht möglich. (Was sich im Vererbungsprozeß verändert sind ja auch nicht "die Gene" ihrer Art nach, sondern ihr Zueinander, die Dynamik, sowie Einschränkungen, gar Mängel. Mutationen selbst sind Defekte und v. a. über den Vererbungsprozeß zu (oder aus) Spezialisierungen gewordene Einschränkungen, nicht Weiterentwicklungen.*)

Erst durch die menschliche Freiheit - in der klaren Rückbindung an ein reales Transzendentales, also nicht als weltimmanent abgeschlossen ansehbar, dann würde sie wieder unter dieses Beharrungsvermögen fallen - kann überhaupt "Neues" in die Welt kommen. Nur durch ihn kann sich der Kosmos in den Geist heben und damit zurückbiegen.

Verliert ein Organismus diese Fähigkeit, Einflüssen gegenüber sein inneres Gefügegleichgewicht zu erhalten, tritt der Tod ein. Im Tod wird der völlige Ausgleich mit der Umwelt (von ihrer Seite her) hergestellt. Im Beharrungsvermögen bewahrt sich ein Organismus vor dieser chemischen oder physikalischen Gleichgewichtslage.

Auf die Aussage im vorigen Absatz zurückkommend, legt sich damit eine Verständnisbrücke zur Ewigkeit, die in der analogen Präsenz des Unendlichen Göttlichen im vollkommenen, geheiligten Menschen ewiges Spiel bedeutet - ewiges Leben in unendlicher, je aktueller Vielfalt. Am Unendlichen in der Willensübereinstimmung (nicht: Ersetzung!) teilhabend, ist auch die Lebensentfaltung "aus dem Vorhandenen heraus" unendlich. Gott, das Sein, ist der "ewig Gleiche", in dem Unendliches Seiendes enthalten ist.

In diesem Sinne erschließt sich auch der Erkenntnisprozeß als Gleichgewichtsstreben, mit dem Ziel der Ohnendlichkeit im alles umfassenden Abstraktum, in das alles Vereinzelte zurückgeführt ist, als Analogie zum Sein selbst.**



*Es ist ein Irrtum dem Inzestverbot quasi "evolutive Funktion" zuzuschreiben. Unabhängig von logischen Fragen, die dabei nicht beantwortbar sind, verstärkt sich aus diesem Beharrungsvermögen heraus (man nehme die Aussagen metaphorischer mehr denn naturwissenschaftlich-exakter Art) auch das jeweils (faktisch) Vorhandene an Anlagen. Und das führt zu fehlender Anpassungsenergie an das Außen. Die Bluterkrankheit, eine typische Erkrankung des Inzest, erzählt diese Geschichte. 

Auf den naturwissenschaftlich nicht leugbaren Monogenismus eingehend, der nacherzählt, was die Genesis erzählt, erübrigt sich bei einer vollkommenen Schöpfung - Adam als erster Mensch war nicht gezeugt, sondern geschaffen, damit vollkommen - die Frage nach dem "Inzest" des ersten Menschenpaares.

Übrigens ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß die Herrscher der Alten Zeit (Ägypten, die mythischen Könige aller möglichen Völker) - als Götter oder Halbgötter oft gesehen - einen Herrscherethos begründeten, der die Könige oder Pharaonen nur durch ihresgleichen, in ihrer göttlichen oder ursprünglichen Vollkommenheit, standesgemäß bei einer Heirat ergänzt sahen. Jeder Herrschermythos der Weltgeschichte geht auf die Urzeiten zurück, oder sucht darin seine Legitimität. Denn das ist die Kernfrage des Herrschers, und über ihn die Kernfrage seines Volkes, das sich immer als Prototyp "Mensch" sieht (die Landes- oder Stammesbezeichnung vieler Völker heißt nichts anderes als "Mensch" - das Wort Mensch ist dabei VON IHNEN HER abgeleitet.) Die Pflicht zur Standesgemäßheit auch europäischer Heiraten gründet genau darin. Ein Volk ohne göttliche Abstammung, ohne göttliche Sendung, überlebt nicht lange. Es muß gewollt, es muß von Gott berufen, benannt sein. Kein Mensch kann ohne Berufung durch seinen Erzeuger leben.

Fustel de Coulanges zeigt in seiner großartigen Untersuchung des Antiken Staates genau das: Wie sich aus solcher Ableitung nach und nach ein historisch immer komplexeres Staats- und Gesellschaftsgebilde entwickelt. Das irgendwann zwar völlig anders aussieht, und doch in seinem Grundstrukturen genau um diese Grundkonstellation kreist. Um sie herum hat sich alles entwickelt, auf sie bezieht sich alles, selbst in der Demokratie.

**Jener Punkt, an dem die Gehirnforschung heute mit Verwunderung feststellt, daß das Wesen des Gehirns gar nicht aus seiner physischen Synapsentätigkeit erkennbar ist, sondern in einem gar nicht physisch "auffindbaren", quasi "festnagelbaren", nur sich in physiologischen Prozessen zeigenden, aber über sie hinausweisenden Koordinationsspiel. Jener Punkt, an dem der Philosoph Karl R. Popper und der Gehirnforscher John C. Eccles in ihrem als Buch erschienenen Gespräch "Das Ich und sein Gehirn" feststellen, daß "das Ich auf seinem Gehirn spielt wie auf einem Klavier." Die Musik, die dabei entsteht, ist in ihren Inhalten, durch die sie erst Musik ist, etwas völlig Neues, Anderes, Drittes und doch Reales.




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