Teil 3) Warum Begabungsförderung genau diese Begabungen zerstört
Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich an eine aussagekräftige Erfahrung. Als er vor etlichen Jahren gebeten wurde, am Schnitt eines Spielfilms mitzuwirken. Etwas, das er zuvor noch nie gemacht, sich so gefragt auch gar nicht zugetraut hatte. Aber er folgte der Einladung - und erlebte eine Überraschung: Denn es stellte sich heraus, daß er wohl im Zusammenfluß verschiedenster Einzelfähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen sogar außerordentlich "talentiert" dafür war. Und doch würde er das nicht als Beruf ausüben wollen, sah und sieht sich darin kein Betätigungsfeld. Er "konnte" es einfach, wußte sobald er vorm Bildschirm saß und das Material ablief vom ersten Moment an, was wo zu tun war. Nichts hätte zuvor darauf hingedeutet - sieht man von der nachträglich bemerkenswerten Erfahrung ab, daß er (als Schauspieler) mit professionellen Cuttern, wo immer er sie traf, immer besonders gutes Einvernehmen, quasi Verstehen aus dem Stand heraus, enorme Übereinstimmung in den Sichtweisen feststellen konnte.
Aber das sagt gar nichts darüber aus, ob es als konkrete Tätigkeit in Frage kommt, sie wäre seinen Hauptintentionen nämlich hinderlich, die sich aus der viel umfassenderen Identitätsfrage ergeben. Deshalb ist die Pädagogik, die auf "Förderung von Talenten" abzielt, wie heute, eine Katastrophe, die nichts besser, sondern alles noch schlechter machen wird, hofft man nicht auf den einen oder anderen Lehrer, der die Dinge (bewußt oder unbewußt) in ihrem Wesen erfaßt hat.
Es ist sogar so, daß viele Fälle nicht entwickelter Talente nicht darauf zurückzuführen sind, daß diese oder jene Tätigkeit nicht ausgebildet wird. Sondern daß der Rahmen, in dem sie verwirklicht werden, verfehlt - meist zu niedrig, manchmal freilich auch zu hoch angesetzt - ist. Womit wir erneut bei der Identitätsfrage landen. Wieder ein simples Beispiel: Der Verfasser dieser Zeilen hat in Jugendjahren an Wettbewerben für Maschinschreiben teilgenommen. Kraft seiner Konzentrations- und Koordinationsfähigkeit hatte er eine Geläufigkeit erworben, die meisterschaftsreif war. Diese Fähigkeit ist zum Teil zwar heute gut verwendbar, aber oft sogar hinderlich, weil man auch zu schnell schreiben kann, so man denn "schreibt". Weshalb die handschriftliche Aufzeichnung immer wieder vorzuziehen ist. Aber kurz: Daraus hatten manche allen Ernstes geschlossen, er wäre als ... Kanzleischreibkraft, als Beamter bestens aufgehoben. Denn immerhin hatte er ja dieses "Talent".
Umgekehrt hat und hatte der Verfasser dieser Zeilen häufig mit dem Phänomen zu tun, daß einfachere Tätigkeiten von jemandem "nicht gekonnt" wurden, weil er seine eigentliche schöpferische Begabung nicht auf diese einfache Systematik reduzieren konnte. In künstlerischen Berufen heute leider eine alltägliche Erscheinung. Das Urteil? Er sei für den Beruf ungeeignet. Weil das (in Wahrheit nicht häufige) Schöpferische Talent gar nicht einfach "vollziehen" kann, jede Systematik eine Qual ist, eben neuschöpferisch tätig sein MUSZ. Ganze Lebensläufe, die nach Unstetheit aussehen, weil Leute in keinem Beruf dauerhaft Fuß fassen konnten, lassen sich so erklären: Hier wurde in der identitären Bestimmung immer zu "niedrig" angesetzt.
Solche Leben münden häufig sogar in seelischen Desastern, weil der Kern, das Eigentliche dieses Menschen gar nicht ins Spiel kommen konnte. Wenn nämlich der Betreffende keine Meta-Identität findet, in die hinein er sich, das Einzelne übergreifend, spannen kann. In den seelischen Folgen ist Überforderung nie so schädlich wie Unterforderung. Und auch hier sind die Ursachen so gut wie immer in identitären Festlegungen (bzw. Nicht-Festlegungen) zu suchen. Die Sünde des Standes (Neid oder Gier) zielt deshalb nie auf Talente, sie zielt auf Identität und Bedeutung.
Der sozialistische Terror der "Chancengleichheit", der genau die "Befreiung" von identitären Bestimmtheiten bei Kindern meint, ist also zutiefst kontraproduktiv, ja zerstörerisch.* Kein Talent, keine Begabung ist "objektiv" definierbar, ja überhaupt als Talent vorhanden. Sie ist immer eine Begabung zur Identität, und als solche muß sie ausgebildet werden, nicht als "Fähigkeit". Letztere sind immer erlernbar, wenn nicht bedeutungslos. (Der Chef eines Unternehmens muß nicht selbst jene Schraube eindrehen können, die er verkauft, von ihm ist anderes gefordert.)
Als generelle "Methode" ist diese heutige (Ab-)Sicht der Begabungsförderung, der ja eine bestimmte und unzutreffende Sicht des Menschen zugrunde liegt, ein wahrer Horror, der sogar noch mehr Verwirrung anrichten wird. Weil er in den jungen Menschen selbst auf eine Weise Kriterien festlegt, die in einer deformierten Seelenstruktur später kaum noch aufzulösende Dauerbehinderungen sind.
Der äußeren Festlegung, die man abstreift, folgt nun also eine innere, psychische, aber noch folgenschwerere. Der Verfasser dieser Zeilen kennt Kinder, und gar nicht wenige, deren von ihm festgestellte, offenkundige seelische Deformation, aus ihrer Lebensführung ersteigend (in den häufigsten Fällen aufgrund einer Familiensituation, der jede natürliche hierarchische Ordnung, deren Alltag vernünftige, reife Struktur fehlt), zu einer Neurose geführt hat, in der sie sich in einem Selbstrettungsreflex zu halten versuchen. (Wie ein zufälliger Strohhalm, an den man sich klammert.) Woraufhin genau dieser Reflex von den Eltern in völliger Verstiegenheit zu einer "Sonderbegabung" erklärt und gezielt "gefördert" wird.
In einer nächsten Stufe wird diese Störung bereits von Unternehmen gezielt ausgenützt - wie ein Artikel in der FAZ aus jüngster Zeit belegt, der davon berichtet, daß IT-Firmen zunehmend Autisten beschäftigen. Man erhofft sich von ihrer "Inselbegabung" - das zynischeste Wort, das man sich für diese Form von Isolation ausdenken konnte - neue Lösungen, auf die sonst niemand gekommen wäre.
Viele Begabungen werden meist ohnehin in ihrem Wesen verkannt, sodaß als Begabung tituliert wird, was in Wahrheit seelischer Defekt, häufig Schwächen des Selbst zuzuschreiben ist - das "Sprachentalent" in bestimmten Ausformungen ist eines davon, ähnlich wie die meisten mathematisch-technischen "Begabungen". Nicht alles, was jemand faktisch KANN, ist auch ein positives Talent.
Solche Kinder kommen vermutlich nie mehr ins Gleichgewicht einer ausgewogenen Persönlichkeit, ohne aber jene "Genies" zu sein, zu denen sie erklärt werden. (Zum Geniebegriff siehe u. a. diesen Blogeintrag.) Was sich doppelt verheerend für ihre Entwicklung auswirkt, weil es sie auch aus sich selbst heraus auf diese Neurose identitäts(fehl)bildend einengt.
Wir verderben durch unsere verfehlte, ja dumme Pädagogik mittlerweile ganze Generationen, und damit wirklich unsere Zukunft. Die Symptome, mit denen wir zunehmend als Massenerscheinung konfrontiert sind (man spricht z. B. je nach Definitionsenge schon von 20-50 % ADHS bei heutigen Kindern), geben dieser Einschätzung nur recht: Das Schöpferische, die eigentliche Würde und Hoffnung des Menschen, ist praktisch am Erlöschen. Während das, was heute als "Kreativität" definiert wird, nicht mehr als seelische Desorientiertheit, Unfähigkeit zur sinnstiftenden Ordnung - DAS Kriterium von Schöpferischem - ist.
*Deshalb ist die Gesamtschule mit ihrem Prinzip der "Leistungsgruppen" strikt abzulehnen. Sie löscht genau das Wesentliche am Lernen und Entwickeln aus: die identitäre Bestimmtheit und natürliche Ausrichtung des Menschen weicht einer Reduktion auf Funktionalität. Hier wird der beste Teil der Jugend schwer und nachhaltig beschädigt, aber dafür der unproduktive Durchschnitt, die Masse nach oben gehoben, wo sie alle Energie daran setzt, sich dort zu HALTEN - wo sie gar nicht hingehört. Weshalb bei solcherart zusammengesetzten Eliten (Stichwort "Akademikerquote" als Ausweis der Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems) automatisch das je Niedrigere nach oben gezogen wird. Eine spiralförmige Entwicklung eines ganzen Gesellschaftssystems nach unten setzt ein. Eine Entwicklung, die aus sich heraus nicht sanierbar ist. Dazu müßte man ... die Schulpflicht aufheben. Dazu ein anderes mal.
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