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Mittwoch, 24. Juli 2013

Vom Werturteil über Menschen

Man kann, schreibt Ludwig Klages einmal, aus dem Verhalten eines Menschen nur sehr bedingt auf seine Tugend- oder gar Willensgröße schließen. Denn es läßt sich nicht sagen, ob jemand, der die Wahrheit spricht, dies nicht nur tut, weil er die Lüge gar nicht kennt und erkennt, ob jemand der friedliebend auftritt dies vielleicht tut, weil er den Streit nicht kennt (oder flieht), oder ob jemand der mutig ist dies nur tut, weil er die Furcht nicht kennengelernt hat.

Ähnliches gilt etwa von Erregbarkeit oder Gleichmut im Willensprozeß. Aus bloßem Verhalten läßt sich nicht schließen, ob jemand gleichmütig weil harmonisch ist, oder nur Mangel an Feinfühligkeit und Gleichgültigkeit hat, oder ob jemand der leicht erregbar ist dies nur aufgrund hoher Feinfühligkeit ist, oder ob launisch und unausgewogen.*

Man kann also aus dem bloßen Vorhandensein willkürlicher Kraft nicht direkt auf den Charakter eines Menschen rückschließen. Denn man weiß nicht, welchen Widerständen er gegenübersteht.** Jedes Merkmal eines Menschen kann zum einen aus einer Kraft ihr Dasein haben, oder aber aus dem Fehlen einer hemmenden Gegenkraft entstehen. Der eine ist gütig, der andere läßt sich nur gehen - beides äußert sich wie Großmut und Wohlwollen. Der eine schimpft laut, poltert drauf los und sieht böse aus, der andere flüstert leise die bösartigsten Verleumdungen und lächelt dabei milde. Der eine ist gütig und wohlwollend, der andere nur schwächlich und beeinflußbar. Der eine ist vielseitig, der andere zerfahren, beides ist oft äußerlich nicht zu unterscheiden.***

Zwar, schreibt Klages, entspricht jeder inneren Bewegung eine zugehörige äußere Bewegung, aber so wenig wie es einen Willensakt für sich gibt, so wenig tut es jemals die Bewegung des Eiferns, Hoffens, Fürchtens, Liebens oder Zweifelns. Immer fürchtet, liebt oder zweifelt das unteilbare Anlagensystem der bestimmten Persönlichkeit. Kein Lieben, Hassen, Zweifeln oder Hoffen von Menschen ist deshalb einander gleich, jedes hat völlig individuelle Gefüge und innere Bewegungen zu ihrer Grundlage, und ist in seiner Äußerung im Ausdruck unterschiedlich.

Eigenschaften sind Seiten, nicht aber Teile eines Persönlichkeitsgefüges im Ganzen.

Menschen mit hohem Energie- und Triebpotential benötigen unvergleichlich mehr Willenskraft, um ihr Handeln bewußt zu bestimmen. Wille, den man in erster Linie als Hemmkraft verstehen muß, der ungeordnetem Trieb entgegensteht, steht immer in einem Verhältnis zur reinen Lebenskraft des Vitalen. Aber diese Kraft ist bei jedem Menschen anders, und anders verteilt.

Daraus läßt sich auch die Bedeutung kultureller Vorgänge erschließen. Sind diese contra naturam ausgerichtet, sind sie es auch mit der Vernunft, sodaß sich in jedem Individuum eine Triebkraft aufbaut, die zu lenken (in ihrem Fehl zu hemmen also) eine entsprechend gesteigerte und ausgeprägte Geistes- und Willenskraft verlangen würde, um sich dem "höheren" Ziel zuzuwenden. Eine der Menschennatur entgegenstehende Kultur treibt also den Menschen in einen Widerspruch mit sich selbst, nimmt sich in allen ihren einzelnen Gliedern und Teilen ihre Wirkkraft.

Nicht der erscheint uns aber als willensstark (als WIRKstark), der besonders starke Hemmkräfte besitzt, sich also von der Ratio her besonders zu steuern vermag. Sondern der, in dem Wille und Trieb in einer Richtung steht, der also ruhig und harmonisch wirkt. Weil er nicht in innerem Streit, sondern in innerem Gleichgewicht steht. Tugendhaftigkeit als Fähigkeit, Tüchtigkeit sich auf ein "gutes" Ziel auszurichten, verlangt also durchaus keinen "starken Willen", sondern eine richtige Bündelung der Zielungskraft. Ein Übereinstimmen der gewissermaßen verfleischlichten Strebungen mit den von der Vernunft erkannten Zielen.


*Dies betrifft natürlich so ziemlich alle Charakteristiken und Ausdrucksmerkmale eines Menschen. Jemand, der in gehobener Stimmung aus der Tiefe eines freudig überquellenden Herzens ist kann dies durchaus auch sein, weil er geistig gar nicht in der Lage ist, den Ernst des Lebens zu begreifen. Jemand, der seine Gefühle im Zaum zu haben scheint, kann gleichermaßen bereits gar kein Gefühlsleben mehr haben und abgestumpft sein. So wie jener, der gefühlsbetont wirkt, dies zwar auch aus tiefer Gefühlsfähigkeit schöpfen kann der sogar ein großer Wille gegenübersteht, während er umgekehrt einfach einen schwachen Willen haben könnte und haltlos ist. Oder: Fähigkeit zum abstrakten Denken kann zwar auf übergewöhnlicher Fähigkeit zu begrifflicher Anschauung beruhen, aber sie kann auch Mattheit der Anschauungsgabe und innere Bilderarmut bedeuten, die das begriffsgenaue Denken erleichtert. Vorherrschaft sinnlichen Vorstellens kann einerseits auf einer hohen Gabe zur Phantasie, wendigen Geist hinweisen, aber sie kann auch Mangel an Geistesschärfe bedeuten, die Bilder gar nicht exakt fassen läßt, sodaß sie deshalb "lebendig" wirken weil ineinander verschwimmen.

**An dieser Stelle kann man direkt auf ADHS zurückkommen. Denn es offenbart sich auffällig als Syndrom genau aus dieser Faktenlage heraus: Ist die identitäre, institutionalisierte, kulturelle Prägung niedrig - und das ist der klarste Effekt heutiger Pädagogik, die sich selbst schon fast rein darin versteht, dem jungen Menschen (etwa durch "Förderung") alle Widerstände, die ihn aber fleischlich prägen würden, aus dem Weg zu räumen oder gleich vorzuenthalten, findet also ein Mensch keine Widerstände in seiner Umgebung vor, dann wird seine Willenskraft "ungebunden". Überspitzt formuliert: Er bleibt in seinem Fleisch ein "Nichts", rohe ungeformte Energie, die von seinem Willen, seiner Vernunft, die als Kind oder Jugendlicher noch dazu gar nicht entwickelt genug ist, nicht ausreichend zu steuern ist. Diese ungelenkte, ungeformte Energie drückt sich in einem erhöhten Aufmerksamkeitspotential gegen "alles und jedes" aus, das ihn sofort mitreißt. ADHS, sofern es überhaupt als "Krankheit" zu bezeichnen ist, ist also ein Symptom eines allgemeinen gesellschaftlichen Zustands, die man gar nicht als alleine in der Verantwortung des Einzelnen (Eltern) stehend sehen darf.

***Das betrifft natürlich auch Bereiche wie geschichtliche Werturteile: Ein Renaissancegrab mit prächtigen, überlebensgroßen Statuen und Sarkophagen, in einem Raum mit gigantischen Fresken und Wandmalereien, läßt uns unweigerlich den Bezogenen und die ganze Zeit als "groß" ansehen. Ganze Epochen, deren Menschen vor allem aber durch Selbstüberschätzung und Egomanie geglänzt haben, erscheinen uns deshalb rasch einmal als "groß". Ob sie das wirklich waren, verlangt aber ganz anderen Maßstab. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt. Gerade oft die größten Menschen blieben im Verborgenen, und wurden in schlichten Holzkisten auf Massenfriedhöfen verscharrt. 
 
 
*240713*