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Mittwoch, 10. Februar 2016

Eine wahre Fastenpredigt

Leider nur über Link auf eine Fremdseite verfügbar ist die Sylvesterpredigt des seinerzeitigen Dompredigers zu St. Stephan, Dr. Karl Raphael Dorr, aus dem Jahre 1964. Denn sie ist eine wahre Fasten- weil Umkehrpredigt. Was aber manchem wie ein vor Theologie und Frommheit triefendes, leidenschaftliches Himmel- und Höllentraktat erscheinen mag, ist in seiner Erschütterung deshalb so wirksam, weil es auf einer glasklaren Philosophie aufbaut und genau damit zutiefst realistisch wird. Was hier scheinbar in reiner Glaubensgestalt daherkommt, ist die bildhafte Umsetzung in menschliche Realität, wie sie stahlstrenge Logik und philosophisch präzise Anthropologie zum einen, wie sie aber die Erfahrung zum anderen bestätigt und erhellt.


Ein interessanter Gedanke daraus übrigens: Für den, der Gott ablehnt, ist die Hölle - ein Zustand mehr denn ein Ort - sogar noch ein letzter Gnadenerweis Gottes. Denn für ihn würde die Nähe Gottes selbst, die Notwendigkeit seinen Anblick ertragen zu müssen, die größte aller nur denkbaren und nicht mehr tragbaren Qualen bedeuten. Was sich im alltäglichen Erleben nachvollziehen läßt: Der nicht reuige Sünder flieht das Reine, flieht das wogegen er gesündigt hat. Und versucht es ersatzweise zu verdunkeln, zu beflecken, um sich dem Leuchten des Lichts zu entziehen.

Baut sich selbst ausgedachte Bilder und Ziele und Religionen, an denen er sich nun - in Abwendung vom Licht - ausrichtet, schafft sich irdische Götzen, baut sich Ersatzwege der Vergebung, um der unerträglichen Scham zu entfliehen, die mit dem Erblicken des ganz Reinen, dem Sein selbst aufsteht. Verdunkelt sein Denken, baut Fehlschlüsse ein, vermischt die Ebenen, um das Sein im Faktischen und unentwegt Begegnenden (das Sein umgibt den Menschen wie den Fisch das Wasser) nicht durchglänzen zu sehen. Schafft Theorien, in denen er sich und nichts jemandem verdankt, schafft sich Begründungen, warum dem Sein doch nicht zu folgen ist, um so jede auffordernde Verbindung und damit Gewissenslast zu ersticken. Baut sich psychologistisch-mechanistische Theorien, um der Gestalt des Begegnenden seine Gestalt zu nehmen und sie in seinen Horizont der Abwendung zu ziehen, indem er sie in Funktionalismen "nach seinem Bilde" (Verstehen) auflöst.

Die Zweitwirklichkeit (Pseudologie) der Gegenwart ist nicht eine zufällige oder schicksalshaft auf uns herabgekommene Last der Kultur. Sie ist Ausfluß eines zur kulturellen Gesamtbewegung gewordenen Kollektivbedürfnisses der Absicherung eines selbst (des "Ich") in rationale Scheinwelten, und sei es durch Selbstauflösung - und ist damit direkte Folge einer durchs Kollektiv (und Denken ist immer Bezug auf ein Kollektiv, auf ein Außen, denn es ist immer Bezug auf die außen, auf die einem immer voraus gewußte Wahrheit) legitimieren sollenden Abwendung von Gott. Wozu im übrigen auch, ja vor allem die Fälschung (auch durch "erfundene Vergangenheiten"), Verdrängung, Vernebelung und Entwertung der Erinnerung gehört. Wozu aber sogar das Herausreißen von Vergangenheiten aus ihrem historischen Zusammenhang, eine somit a-historische und so gut wie immer damit falsche Aktualisierung gehört. Denn die Erinnerung - ein je neu schöpferischer und damit sittlicher Akt! - ist er eigentliche Ort der Wahrheit, also der Erfahrung des Seins, ja sie ist das Fleisch, in dem das Ich steckt.

Um aber keine Täuschung aufkommen zu lassen: Die Haltung, die hinter dem Beschriebenen steht, ist keineswegs einseitig oder gar leicht festmachbar, identifizierbar mit dem verbal-expliziten "ich bin gut". Es gibt auch eine Kollektivbewegung, die die hochherzige Bewegung, sich dem Sein zu stellen, generell ablehnt und für niedrig erklärt. Es gibt eine Individualbewegung, die auch das Eigenurteil - "ich bin schlecht" - zur Bewegung des Hochmuts macht, dem Sein nur auf andere Weise ausweicht. Es geht generell um die Selbstqualifizierung im Urteil - ob gut, ob schlecht. Reue ist kein Selbsturteil, sondern realistische (und Realismus gibt es nur vor dem Sein), erfahrene posthoc-Erkenntnis.




*100216*