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Mittwoch, 24. Februar 2016

Von der Glorie zur Schande (1)

Man schätzt oft die Zeit der Völkerwanderung falsch ein. Es waren nicht die kraftvollen Völker, die manche Geschichtsschreibung daraus gemacht hat, die Europa überschwemmten. Es waren praktisch ausnahmslos Völker im Niedergang, die ihre Heimat verließen, jawohl: die Germanen waren im Niedrigstand. Und es waren einfache Völker der Steppe, die sie aus ihren angestammten Wohnsitzen vertrieben. Alles Rätseln um Ursachen - klimatische Veränderungen, weiß der Deibel was noch - ist Unsinn. Zahlreiche Geschichtsschreiber bestätigen diese These des VdZ, und nicht zuletzt Henri Pirenne bestätigt sie in seiner außerordentlich schlüssigen Deutung der Völkerwanderungszeit, der zeit des frühen bis zum hohen Mittelalter: Es war eine Zeit des kulturellen Niedrigstandes

Sie hat sich bei der angestammten Bevölkerung als Dekadenz und Technizismus geäußert,. Samt der daraus erwachsenden Magie, samt den magischen Kulten wie dem der Mithra gewidmeten, der sich überall ausbreitete wie ein Gerücht. Der übrigens aus dem Orient stammt, auf deren Überbleibsel - die oft genug alle alte, gesunde Kultur überdeckte wie der Efeu Berlin - heutige Naivität oft genug blickt, als stünden sie Hochständen der Antike gegenüber. Nur, weil sie nichts mehr weiß, deshalb nichts mehr zu scheiden weiß und alles, was alt ist, verklärt. 

Das mögen gewiß viele nicht gerne hören, aber schon die Kampfesweise der Germanen unter Arminius im Detmolder oder Teutoburger oder Paderborner Wald (wo immer die berühmte Varus-Schlacht im Jahre 9 eben stattfand) war nicht mehr die mannesmutige Kampfesweise, die sogar noch die Kimbern und Teutonen an den Tag gelegt hatten, aus welcher Begegnung rund 100 Jahre zuvor die Römer den Mythos des "Furor Teutonicus" zimmerten, um sich selbst zu rechtfertigen. Die sich noch mutig der offenen Schlacht gestellt hatten, während die Germanen des von bereits dekadenten Römern geschulten Arminius aus Hinterhalten, also in Terrortaktik, angriffen. Da ging es nicht mehr um Ehre, da ging es um Effekt. Die Germanen waren verwichlicht, fast zum Matriarchat herabgesunken. (Auch das Matriarchat ist ein Endstadium eines Kulturverfalls.) Aber lassen wir das an dieser Stelle.

Was bei Henri Pirenne aber so gut nachvollziehbar wird (und deshalb ist er hier angeführt) ist, daß er begreifbar macht, warum die Kirche in dieser Zeit bei der Bevölkerung so großes Ansehen aufbauen konnte. So großes Ansehen, daß bereits dem ersten Karolinger, Pippin, im Jahre 753 nichts übrig blieb als den Papst um seinen Segen, ja um seine Entscheidung in der Königswürde zu bitten. Weg von den absurd-unwürdig gewordenen, völlig dekadenten und in Folge realpoltisch machtlosen Merowingern, so sehr ihren endgültigen Niedergang die Sarazenen bewirkt hatten, die einen ganzen Kulturraum, das Mittelmeer, binnen weniger Jahre niederrissen; Doderer beschreibt es so herrlich in seinem Roman "Die Merowinger oder: die totale Familie". 

Weil die Kirche bereits so große Macht gewonnen hatte, daß der von ihr gesalbte König auch uralte mythische Verankerungen überwinden konnte. Denn die Merowinger waren mythisch verankert, so fest, daß kaum jemand glauben konnte, daß ihr Gottesgnadentum jemals enden könnte. Und worin gründete diese Macht? Im Ansehen bei den Menschen! Die Menschen glaubten dem Klerus, sie glaubten den Mönchen, sie glaubten der Kirche!

Dieses Ansehen ist sehr leicht nachzuvollziehen: Während die meisten Patrizier, der Großteil der Elite, die im wesentlichen sogar noch den Adel der ersten Völkerwanderungsjahrhunderte stellten (und mancher sogenannte deutsche, europäische Adel geht sogar auf sie zurück), während der Europa eigentlich noch nach römischen Mustern organisiert blieb, davonliefen, um zu retten was für sie zu retten schien, und dabei die alten (im wesentlichen patriarchal gebliebenen) Organisationsstrukturen einfach aufgaben, war nur eine Schichte geblieben: Und das war ... der Klerus. 

Der Klerus war es, die Bischöfe, Priester, die letzte Bastion antiker Bildung noch dazu, der bei den Menschen blieb. Der Sklaven freikaufte indem er sein letztes Hemd hergab, und der vor allem eines tat: Sich auf die Seite der einfachen Bevölkerung zu stellen, vor allem der Bauern, wenn die beutegierigen Zuwanderer anbrandeten. Selbst diesen - die Geschichte zwischen Benedict und Attila ist mehrfach bezeugt - rang der Todesmut des christlichen Klerus alle Achtung ab. Sie retteten entweder selbst, was an Kulturgut zu retten war (den Klöstern verdankt überhaupt Europa seinen Wiederaufstieg im hohen Mittelalter, dem dort gespeicherten kulturellen Wissen, der dort vorhandenen Bildung; "clerc" kommt von "Klerus" - den einzigen Gebildeten!), oder stellten sich vor die Bevölkerung, um sie zu schützen. Organisierten, bargen, halfen. Der einheimischen Bevölkerung. Den ihnen anvertrauten Seelen. Sie traten den Heiden mit Monstranzen entgegen, ließen sich foltern und ermorden, gaben ihr Leben, um heimische Frauen vor der Schändung zu bewahren, verhinderten Brandschatzung und Plünderung, verhandelten, um für ihre Lämmer tragbare Kompromisse zu erstreiten, sodaß diese weiter leben und existieren konnten, selbst wenn sich Neuansiedler neben ihnen breitmachten.

Wie sonst, meinte wohl der Leser, wäre s möglich gewesen, daß sich Europa im 8. Jhd. so rasch wieder rechristianisieren hätte lassen? Wie sonst wären die neuen Reichsstrukturen eines Karl überhaupt möglich gewesen, und damit die gesamte spätere Reichsentwicklung, und das ist ident mit der Entwicklung Europas? Weil sich eine geistige Struktur gebildet hatte, die trug, die alles durchstand, und die die Menschen stützte, zu der sie Vertrauen hatte. So sehr, daß noch bis ins 12,, 13. Jhd. die Kirche Synonym für den Kampf sogar gegen eigenen Fürstenwahn galt. Die Kirche stand für die Verbrüderung mit den einfachen Menschen, im Kampf gegen Despotenwillkür und Ausbeutung. Im Kampf gegen Zentralismus und existenzgefährdende Begierden der Herrscher, die ihre Völker und Landschaften oft auspreßten, wo es nur möglich war.



Morgen Teil 2) Wer aber heute unter dem Krummstab gut lebt? - 
Verrat an den Menschen!





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