Teil 2) Man muß auch hier ganz neu ansetzen
Wenn aber wie heute alles Tun, alles
Handeln ohne jeden Raumbezug gesehen wird, fehlt allem Tun und Handeln
auch die Kraft zur Identitätsbildung. Identität wird aufgelöst, der
Einzelne wird zur bloßen Funktion eines Apparats, der aber keinerlei
regionalen, direkt menschlichen Bezug mehr hat. Persönliche Motive
werden zu technischen "Werten", zu expliziten, verdinglichten Ideen.
Aber
universalistische "Werte" werden zu gar keinen Werten mehr. Sie sind
leer. Es gibt keine Liebe zu "allem", es gibt nur konkrete Liebe zu
einem konkreten Menschen. Es gibt keinen Sinn "aus allem", sondern es
gibt nur konkreten Sinn. Es gibt deshalb auch keine "Weltideen", die
Identität stiften können, wie die einer "Weltrettung", sondern es gibt
nur Ideen, die im Konkreten erfahrbar und real sind. Es gibt keine
"allgemeine Menschlichkeit", sondern nur reale Menschlichkeit dem Vater,
der Mutter, dem Nachbarn, dem Schulkameraden, dem Studienkommilitone
gegenüber.
Es
gibt keine "Verantwortung für die Welt", sondern nur Verantwortung für
den Baum vor der Haustüre und der Katze am Dach des Vorbaus. Und es gibt
keine Verantwortung ohne den Aufruf, gebraucht zu werden und der
erfolgt, indem man erfährt, wer man ist, also über Identität. Nur ALS
JEMAND kann man somit Sinn erfahren, und das wird im Staat (dem
"Vaterland") als verlängertes Element des Individuellen repräsentiert
wie gegeben. Er stellt dar, was allen Einzelnen in ihm äußerste Schichte
der Persönlichkeit war und ist.
Damit
grenzt sich Identität von jedem "Nationalismus" ab, der den Staat
verabsolutiert und das Einzelne zu ersetzen sucht. Sie ist aber
zugleich immer und zuerst "nationell", baut sich also auch nicht einfach
"von unten" auf, sondern gibt "von oben" her den räumlichen Rahmen, in
dem jedem dann - über den gestuften Aufbau - sein Ort und damit seine
ganz spezifische, individuelle Identität zukommt.
Deshalb
kann es sehr wohl einen Staat geben, in dem sich viele Ethnien
zusammenfinden. Aber es kann nur ein Staat bleiben und sein, wenn alle
diese Ethnien sich in der Räumlichkeit auch tatsächlich beheimatet
wissen, der sie ihre Identität verdanken, die sie immer von
Staatsbürgern angrenzender (bzw. anderer) Staaten unterscheiden muß.
Ein
sie zusammenfassendes "Reich" kann nur bis zur Grenze der jeweiligen
Staaten gehen, dort muß sie zum Stehen kommen. Ihre Agenda ist die
schiedsrichterliche Regelung des Großraumes, innerhalb dessen jeder
Staat und seine Bürger Identität haben. Was bis zur Zusammenschließung
in Militärfragen gehen kann (und letztlich sogar soll), für den Fall,
daß einmal der Großraum überhaupt bedroht sein sollte. Aber jedes Reich
muß seine Mitglieder als individuelle Figuren behandeln, die zu nichts
zu zwingen sind was ihre jeweilige Identität betrifft. Seine Aufgabe
kann also nur höchst begrenzt sein, in der Aufgabe ebenso wie zeitlich,
soweit sie zu erledigen ist. Das Reich ist kein "Super-Staat". Denn der
Staat ist auch für das Individuum die Grenze der Persönlichkeit, bei der
die Freiheit und damit die Verantwortung beginnt wie endet.
Damit
ist auch klar, daß so ein Reich, so ein übernationaler Zusammenschluß
wie ihn die EU darstellt, niemals Identitätsstiftung leisten kann. Er
ist prinzipiell unfähig, weil unzuständig, dem Einzelnen, dem Individuum
einen Ort zuzuweisen. Und in diesem Ort die Identität, die Aufgabe, die
Erfahrung, gebraucht und deshalb unabkömmlich zu sein.
Und
damit kommen wir zu den drei Berichten zurück. Denn sie alle sind
Belege dafür, was heute weltweit schief geht, weil falsch gedacht wird,
sich aber jeweils im Einzelnen als Sinnverlust - und das heißt:
Ortsverlust! - ausdrückt. Es hat alle Menschen weltweit in eine
Sinnlosigkeit gestürzt. Ohne Sinn aber fehlt den Menschen die Kraft, um
ein Leben selbst in Schwierigkeiten aufzubauen. Ohne JEMAND zu sein,
fehlt den Menschen die Kraft, im Begegnenden zu suchen, was es ALS
JEMAND daran zu tun hätte. Denn nur dort läge und liegt auch das, was er
nun an anderem Ort der Welt suchen möchte, wozu er also aufbricht.
Das
"Europa der Vaterländer" ist also tatsächlich mehr als ein Schlagwort.
Es ist der Schlüssel. Aber es kann nur Schlüssel sein, wenn sich die
einzelnen Staaten ihrer Sendung im Raum wieder bewußt werden, und das
heißt durchaus, sich neu abzugrenzen lernen, neu lernen, ihre Interessen
in ihrem Raum zu begreifen und wahrzunehmen. Keine psycho-soziale
Maßnahme oder Politik wird je fruchten, so lange das nicht passiert. Sie
wird sogar das Gegenteil bewirken und den Menschen jeden Sinn, Europa
damit endgültig seine Lebenskraft rauben. Der Zustand der Jugend, die
mangels Sinn kein Interesse mehr hat, nicht weiß wer sie ist, was sie
soll, ist dringende Mahnung dazu.
Auch
Afrika wird wohl ganz neu durchgedacht werden müssen. Denn was diesem
Kontinent vielfach fehlt ist, daß man die postkolonialen, oft brutal
willkürlichen und von Interessen der ehemaligen Kolonialmächte
beherrschten Konstrukte, die man einfach so dann "Staat" nannte, nicht
durch die Behauptung ersetzen kann, es handele sich nun bei allen
tatsächlich um einen identitätsstiftenden Staat. Viele der heutigen
Staatsgebilde müssen vermutlich völlig neu gedacht und geformt,
teilweise wohl auch aufgelöst und neu gegründet werden. Wo das nicht der
Fall ist, muß sich Afrika aber in Reichen wiederfinden können. Nur in
solchen neuen, aber diesmal naturrechtlich begründbaren Staaten aber
kann jene Bindekraft entstehen, die die Afrikaner begreifen läßt, daß
ihre Lebensaufgabe nur in ihrem Staat erfüllt werden kann. Weil sie dort
eine Sendung im Raum haben, einen Ort, eine Identität, und damit ALS
JEMAND dort gebraucht werden.
*211117*