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Samstag, 2. November 2019

Warum wir den Leichnam ehren

Beim Menschen als Person sind in seiner Ganzheit, die er ist, Leibliches, Körperhaftes und Geistiges nicht zu trennen. Sie gehören also immer zusammen, und sind ohne einander nicht denkbar. Der Leib ist dabei zwar die Bedingung, aber nicht die Ursache der im Geist stehenden Seele als Leibform.

Das zeigt sich in seiner Fähigkeit zu geistigen Akten, die das eigentlich Menschliche sind. In der die Person fern aller körperlichen und psychischen Zustände zu einer Entscheidung stehen kann. Damit steht er zwar immer innerhalb der Zeit, aber er hebt sich aus ihr heraus. Der Geist, dessen Akte über allen körperlichen und psychischen Vorgängen stehen, ist somit des Menschen höchster Bereich.

Somit besteht die Lebensaufgabe darin, alle unteren Ebenen dieser Hierarchie, in der der Mensch in sich steht, in die Geistigkeit seiner Akte einzugliedern. In der fehlenden Dauer der geistigen Akte, die sobald sie gesetzt sind, zeitlos und damit auch ewig sind, hebt er sich in dieser Eingliederung seines Leiblichen/Psychischen in die Über-Zeitlichkeit, ins Ewige. Und so in einen Sinn (den logos).

Die Körperlichkeit des Menschen ist damit die Darstellung seiner selbst, und Ausdruck seines Grades an Vollkommenheit. Nicht durch dessen Zustände, sondern durch die Geformtheit weil Eingebettetheit in Sinn und Ordnung durch geistige Akte, wie bei der Treue sichtbar wird.

Anders als beim Tier, ist das Sterben des Menschen damit ein Akt. Denn im Sterben kann der Mensch sich ganz an Gott, seinen Ursprung, zurückgeben. An jenen Gott, jenes Sein, von dem er kommt, der ihn geschaffen und ihm Sein mitgeteilt hat. (Deshalb ist, deshalb war er.)

Mit diesem geistigen Akt untergreift die Person endgültig und ganz auch das Körperliche. Dieses stirbt somit, weil nicht nur sein formender Untergrund an Gott übergeben ist, sondern der ganze Mensch. Der Körper zerfällt dann in Formlosigkeit ("zu Staub"), weil der Mensch geistig den Akt des Sterbens gesetzt hat, in dem Leib und Seele auseinandergehen.* Sterben im eigentlichen Sinn kann also nur der Mensch, nicht das Tier oder die Pflanze, das immer seine körperliche Zuständlichkeit ganz IST, sich nicht herausheben kann, nicht über sie hinausgreift. Und das Sterben ist auch des Menschen letzte Aufgabe.

Der zurückgelassene tote Leib (der Leichnam) ist damit das Zeugnis, die Zurücklassenschaft ("Reliquie") des (aktiv) gestorbenen Menschen. Darin gründet die Ehrfurcht vor dem Leichnam, darin gründet die Ganzkörperbestattung, die in der Christenheit üblich ist. Es ist nicht einfach abgefallener Staub, sondern gehört auf gewisse Weise dem Toten als Person an. Es ist seine Reliquie, seine Darstellung und Zurücklassenschaft als seine letzte Tat. (Der Begriff der Reliquie ist nicht unbegründet hier gewählt.)

Der Leichnam ist die letzte, akthafte Darstellung des Verstorbenen. Und bleibt auch bei Veränderung der Zustände in diesen letzten Akt eingegliedert, der von den körperlichen Zuständen unabhängig, aber vom Leiblichen nicht trennbar ist.

Fassen wir mit anderen Worten zusammen: Zwischen Körper und "Mensch" wurde seit je und ist nicht wirklich zu unterscheiden. Mensch ist Mensch! Wo hört das auf, wo beginnt es? Die Aktualisierung ist vom Menschsein unabhängig, das ist auch der Schlüssel für Abtreibung oder Organspendung. Und zwar weil wir wissen, daß sogar das Leben eine Akzidentie ist, eine Eigenschaft, nicht konstitutiv für das Menschsein selbst. Der Mensch "lebt" in gewisser Wiese nicht, er nimmt durch sein Aktivsein, durch sein Existieren (als Akt) am Leben teil. Existiert er falsch, stirbt er, verliert er den Anteil am Leben.**

Aber er selbst? Er bleibt, nur anders. Er bleibt über die Wirkung seiner Taten, über die Nachfahren sogar in der Welt präsent, und die Abrechnung mit seiner Lebensfrucht erfolgt erst am Ende der Welt überhaupt, nicht schon nach dem Tod.

Deshalb wurde und wird der Tote so geehrt, als wäre er "existent", nur in einem anderen Zustand: Dem der getrennten Seele. Mit diesem Handwerkszeug, geneigter Leser, möge er nun auf den Friedhof gehen.

Und dann, am Abend, vielleicht auch die archäologischen Befunde neu ansehen. Vielleicht erzählen sie ihm, vielleicht erzählt ihm die Religion der Altvorderen, die sich in den Relikten der Begräbnissitten zeigen, genau diese Geschichte.




*Wenn er diesen Akt nicht gesetzt hat oder setzen will, wenn er die Kraft nicht hat in diesem letzten Akt seinen Körper zu umfangen, stirbt er zwar auch, weil er in dem Maß, als sein Körper aus dem Geistigen herausfällt, die Bedingung seines Menschseins verliert, womit Ausdehnung im Körperlichen wegfällt, aber er stirbt nicht in Gott hinein, sondern in die nicht vollzogene Hinwendung zu ihm.

**Speziell für Leser N gesagt: Nicht dafür muß man etwas "imaginieren", daß man davon ausgeht, daß der vor einem liegende Leichnam der vormals lebende Mensch "irgendwie noch ist", sondern dafür, daß er das "nicht mehr sein soll". Der, wenn man so will, unnatürlichere Schritt liegt also darin, die physische Präsenz von der Person zu trennen. Das kann man unter anderem daran erkennen, daß man aus der Unbeweglichkeit eines Körpers erst durch Vergewisserung schließen kann, daß er "nicht mehr lebt", also nicht mehr ganz als Person und Mensch "da" ist. Im Tod trennt sich ja nur die Geist-Seele, endgültig, was im Laufe des Lebens mehr oder weniger aber ohnehin schon der Fall ist. Die Seele allein ist aber ebenfalls nicht "der Mensch" (Seele ist nur das Prinzip, warum etwas lebt), sondern nur beides zusammen.