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Samstag, 23. November 2019

Zwar mehr Güter, aber immer weniger Werte

In einem Artikel auf think-beyondtheobvious.com stellt der Ökonom Dr. Daniel Stelter die Frage, warum es trotz der exorbitanten Geldmengensteigerungen der letzten Jahre zu keiner nennenswerten Inflation gekommen ist. Das ist unlogisch, und widerspricht vielen der gängigen Theorien. Also wird munter gemutmaßt, und das setzt sich in den Leserkommentaren fort, was diese seltsame Tatsache bewirkt haben könnte. Ganz widersprüchliche Tatsachen werden angeführt, und die Meinung neigt sich jeweils in jene Richtung, die der einen oder anderen mehr Gewicht beimißt.

Vielleicht jedoch liegt es an etwas anderem. Vielleicht liegt es an der Definition von "Produktivitätssteigerung", wie sie sich seit langem etabliert hat. Immerhin wird der Zuwachs an Wohlstand daran gemessen. Seit langem wird darunter aber nur noch eine quantitative Größe gesehen, die in Geld meßbar ist. Grob gesagt: Produktivitätssteigerung wird auf die Formel reduziert, wie man mit immer weniger Mitteln immer mehr zu immer niedrigeren Preisen herstellen kann. Das erhöht dann den Wohlstand einer Volkswirtschaft. Angeblich, muß man freilich sagen.

Denn was erhöht wirklich den Wohlstand eines Volkes? Betrachten wir es doch einmal mit einem Blick in die Vergangenheit. Der VdZ war unlängst im Schloß Esterhazy in Fertöd in Ungarn, dem Stammhaus der Fürsten von Esterhazy. Und ihm fiel auf, daß der Tenor bei den Besuchern einhellig der war, daß anhand der wertvollen Ausstattung des Schlosses der Reichtum der Besitzer ermeßbar wäre. 

Die Betonung liegt somit auf "Wert". Eine Gesellschaft (oder auch nur eine Einzelperson) wird dann als reich angesehen, wenn sie viele oder hohe Werte besitzt. Entsprechend bemißt sich Produktivität und Produktivitätssteigerung daran, daß die Menschen in der Lage sind, vorhandene Ressourcen - Materialien, Boden, Arbeitskraft - so einzusetzen, daß sie daraus wertvollere Produkte herstellen können. Beispiel: Es ist eine Steigerung der Produktivität, wenn ein Waldbesitzer aus seinen Wäldern nicht einfach Brennholz und Rohmaterial für Hackschnitzelanlagen gewinnt, sondern Bäume zu ziehen in der Lage ist, die die Herstellung von Geigen ermöglicht. Mit ganz wenig Holz wird dann ein höchst wertvolles Produkt hergestellt. 

Das Beispiel läßt sich mit etwas Phantasie auf praktisch alle Produkte und Herstellungsbereiche ausweiten. Ja es ist geradezu ein Merkmal für reiche Gesellschaften und Epochen geworden. Die sich dadurch kennzeichnen, daß allgemein hochwertige Produkte hergestellt, gekauft (also nachgefragt), und verwendet werden. Das ist es, was uns in unseren Ländern "reich" gemacht hat. Ob es die Qualität der Handwerker ist, oder die Fähigkeit, aus Eisen nicht einfach Nägel, sondern hochwertige Maschinen herzustellen. 

Seit Jahrzehnten, und in den letzten Jahren in zunehmendem Tempo, ist aber ein anderer Trend festzustellen. Die Herstellung (und sogar der Handel) von Produkten konzentriert sich immer mehr auf quantitative Aspekte, die von einem fortlaufenden Verlust an Qualität(en) begleitet werden. Entweder werden die Produkte weniger werthaltig, was sich in fallenden Preisen ausdrückt, oder sie werden um qualitative Aspekte reduziert.

Wozu sich immer kürzere Produktzyklen gesellen, die ebenfalls eine Wertminderung bedeuten oder signalisieren. Und noch dazu auf Kosten der Rohstoffe und des Materials gehen. Warum ist das Zeichen für Wertverlust? Weil keine Werte mehr BLEIBEN, sondern ständig die immer niedrigeren Werte ERNEUERT werden müssen. Dadurch bleibt Wohlstand eine immer kurzfristigere, fragilere Tatsache, die sich immer mehr auf Menge, nicht auf Qualität reduziert. Salopp formuliert: Unser Wohlstand wird von immer weniger bestehenden Werten gebildet, sondern immer mehr davon, daß wir das Hamsterrad, das die Energie liefert, die Wohlstand produziert, immer schneller durch unser Laufen darin drehen können.

Denn noch mehr drückt sich fallende Qualität (und damit fallender Einzelwert eines Produkts) in einer Volkswirtschaft in dem Umstand aus, daß die Produkte immer primitiveren, das heißt kulturell niedriger stehenden Zwecken dienen. Daß das eine Verminderung der Lebensqualität bedeutet, merken wir lange nicht, zumal wir diese Reduktion durch Verlagerung des Frui (der Erfreuungskraft, des Freudbarkeitspotentials in den Dingen) auf immer vordergründigere Effekte ersetzen. 

Man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: Der Wohlstand einer Gesellschaft bemißt sich nicht (primär) nach der Menge an Produkten, die in Gebrauch stehen und am Markt angeboten werden, sondern wieweit durch diese Produkte die Kultur des Lebens gehoben wird. Das ist somit eine reiche Volkswirtschaft, wenn sie sich mit sehr hochwertigen Produkten befaßt. (Das Beispiel der Schweiz mag da durchaus gelten, die gemessen am Anteil am Bruttosozialprodukt weltweit in der Herstellung von "Luxusprodukten" führend ist.) 

Erst unter dieser Prämisse gehen Lohnniveau, Lebenszufriedenheit und Produktivität Hand in Hand. Und erst unter diesen Vorzeichen läßt sich ein Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation wirklich begreifen. Es geht bei Produkten und Produktivitätssteigerungen nämlich nicht um Mengen und Stückzahlen und Geld und Preisniveau, also Inflation, sondern um die Steigerung der Lebenshöhe, also der Kultur. Weil wir das vergessen haben und immer mehr verdrängen, werden auch die herkömmlichen volkswirtschaftlichen Kenndaten immer weniger aussagekräftig, und noch weniger erlauben sie Prognosen. Außer der, daß ein Erhalt des Wohlstands nur durch immer größeren Qualitätsverlust und immer mehr gesteigerten, aus dem menschlichen Insgesamt herausgerissenen Funktionalitäten möglich ist. 

Eine Änderung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil wird alles getan, um diesen Begriff von Wohlstand und Produktivität weiter in diese "Hamsterrad-Logik" zu treiben. Die Weichen sind allesamt in diese Richtung gestellt. Das zeigen die laufend weiter ausgebauten globalen Abkommen eines Freihandels, der nicht einfach auf Arbeitsteiligkeit abzielt, sondern im Sinne einer quantitativen Produktivitätserhöhung regionale Gegebenheiten nützen will, die bestimmte Leistungsbereiche ersetzen weil qualitativ - Kosten (Löhne, Rohstoffe, Umweltbedingungen) - unterbieten können.

Wenn aber das Reden um Produktivitätssteigerung einen Sinn haben soll, dann nur, wenn man sie in Zusammenhang mit der Steigerung der Höhe einer Kultur sieht. Und das bedeuten noch leistungsfähigere Handys oder Autos oder Lebensmittel - allesamt Produkte, die wir selbst ebenfalls herstellen könnten, ja sollten - nicht. Im Gegenteil werden jedoch in unseren Ländern die Bereiche, wo noch produziert wird, in der Produktivität weil in der kulturellen Qualität und Höhe (man denke an die Verdrängung von hochwertigem Getreideanbau durch primitive "Energiepflanzen") weiter sinken. Und damit (auch das kann man schon jetzt sagen) auch die Löhne, weil es Werte sind, die unsere Arbeit noch zu schaffen vermag. Geld aber hat nur Sinn, wenn es sich auf Werte bezieht. 

Die Dichotomie, in der wir stehen, ist somit völlig widersprüchlich. Und das Gerede von "Dienstleistungsgesellschaft" (ein Zweitsektor, der vom Produktionssektor abhängt) als angeblichen Ausweis höherer Wertschöpfung eine Lüge. Vielmehr stehen wir in einer Entwicklung, in der immer geringere Werte einer immer weiter ausgeweiteten Geldmenge gegenüberstehen. Was immer wir also an traditionell aussagekräftigen Kennzahlen über unsere Volkswirtschaften haben, wird immer mehr zu Parametern, die mit der realen Wirtschaft nichts mehr zu tun haben, und damit Steuerungsmaßnahmen zunehmend zu bloßen Teillöschaktionen für lokale Brandherde werden, die aber das Insgesamt unserer Volkswirtschaften weiter aus jedem Gleichgewicht bringen. Wo sich Werte, nicht Gelder, wo sich vor allem humane Grundbezüge gegenüberstehen, die erst das ergeben, was wir mit "Logik" bezeichnen. Aber das ist nicht einfach mit mathematischen Formeln darzustellen.