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Freitag, 19. März 2010

Ein Volk von Brüdern

"Unter Sippen und Blutsverwandten dauert ja die lebendigste,vollste Kunde, und ihnen stehen von Natur geheime Zugänge offen, die sich den anderen erschließen. Nicht allein leibliche Eigenheiten und Züge haben sich einzelnen Gliedern eines Geschlechts eingeprägt und zucken in wunderbarer Mischung nach, sondern dasselbe tut auch die geistige Besonderheit, daß man oft darüber staunt; da hält ein Kind den Kopf oder dreht die Achsel genau wie es der Vater und Großvater getan hatte, und aus seiner Kehle erschallen bestimmte Laute mit derselben Modulation, die jenen geläufig war; die leisesten Anlagen, Fähigkeiten und Eindrücke der Seele, warum sollten nicht auch sie sich wiederholen? [...]

Mir erscheint nun, daß dieser edle, die Menschheit festigende und bestätigende Hintergrund seine größte Kraft hat zwischen Geschwistern, stärkere sogar als zwischen Eltern und Kindern. Geschlechter haben sich zu Stämmen, Stämme zu Völkern erhoben nicht sowohl dadurch, daß auf den Vater Söhne und Enkel in unabsehbarer Reihe folgten, als dadurch, daß Brüder und Bruderskinder auf der Seite fest zu dem Stamm hielten, nicht die Descendenten, erst die Collateralen sind es, die einen Stamm gründen, nicht auf Sohnschaft sowohl als auf Brüderschaft beruht ein Volk in seiner Breite. [...] 

So will ich den einfachen Grund angeben, warum Brüder sich besser verstehen und erkennen als Vater und Sohn. Eltern und Kinder leben nur ein halbes Leben miteinander, Geschwister ein ganzes. Der Sohn hat seines Vaters Kindheit und Jugend nie gesehen, der Vater nicht mehr seinen Sohn als reifen Mann und Greis erlebt. Eltern und Kinder sind sich also nicht volle Zeitgenossen, das Leben der Eltern sinkt vornen in die Vergangenheit, das der Kinder steht hintern in die Zukunft. [...]

Niemand weiß folglich bessern Bescheid zu geben als vom Bruder der Bruder, und diesem natürlichen Verhalt hinzu tritt noch ein sittlicher. Der Vater vom Sohne redend wird sich seiner Gewalt über ihn stets bewußt bleiben, der Sohn Zeugnis vom Vater ablegen der gewohnten Ehrfurcht nie vergessen. Geschwister aber stehen untereinander, ihrer wechselseitigen Liebe zum Trotz, frei und unabhängig, so daß ihr Urteil kein Blatt vor den Mund nimmt.
Und dazu noch die leibliche Geschwisterähnlichkeit, also insgeheim auch die geistige, dem Vater gleicht der Sohn nur mehr oder weniger als halb, weil er auch Mutterzüge in sich aufnimmt, hingegen Brüder teilen sich in des Vaters und der Mutter Gesicht und besitzen von jedem irgendetwas; laßt Brüder sich in der Kindheit noch so unähnlich erscheinen, im Alter, wenn ihre Wangen einfallen, gleichen sie einander durch die Bank."



Jacob Grimm in seiner Gedenkrede 
an den Bruder Wilhelm, 1860



*190310*