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Dienstag, 3. März 2015

Wenn die Propaganda keinen Boden findet

Anders als an den übrigen Fronten, konnten die einfachen russischen Soldaten 1914/17 mit dem Krieg überhaupt nichts anfangen, schreibt Jörn Leonhard in "Die Büchse der Pandora". Ihr Dorf, ihre Heimat, der Zar, ihre Religion, darum drehte sich ihr Leben. Aber was mit "Rußland" gemeint war, warum sie gegen Deutschland, irgendwo fern ihrer Heimat, kämpfen sollten, war den wenigsten klar. In Briefen finden sich Passagen, in denen Soldaten meinen, man sollte doch den Deutschen Geld geben, anstatt sich von ihnen grundlos totschießen zu lassen. Andere meinten, daß sie nicht verstünden, warum man sich überhaupt in anderer Leute Angelegenheiten mischte.

General Brussilow vermerkt in seinen Erinnerungen, daß kaum einer seiner Soldaten, zumal die Ergänzungen aus inneren Gebieten, den Begriff "Serbien" überhaupt kannte, und was unter "Slawe" zu verstehen war, wußten auch nur die wenigsten. Sie verstanden nicht, warum dieser Krieg da mir nichts dir nichts über sie hereingebrochen war.

So war die Kriegsmüdigkeit rascher als an anderen Fronten zur Gefahr geworden. Dazu kam die tiefe Kluft zwischen Offizieren und Gemeinen, wenn die Differenz zwischen Etappe und Front auch an allen Fronten kennzeichnend war. Nachschubprobleme für die vorderen Linien machten die Differenz noch stärker, in der sich das russische Offizierskorps durch Brutalität und überzogene Disziplinierungsmaßnahmen noch deutlicher absetzte, um jeden Willen zu brechen, und Marionetten aus den Soldaten zu machen, wie es empfunden wurde. Tiefe Verbitterung machte sich breit.

Zwar in etwas abgeschwächter Form, glichen ihnen am meisten noch die bayrischen Soldaten mit ihrem hohen Anteil an Bauern. Auch wenn die mit den Frontbedingungen noch am ehesten zurechtkamen. 

Während die Soldaten der Provence, schreibt Leonhard, so gar nicht begriffen, warum Frankreich ein so nasses, kaltes, unfreundliches Land wie Nordfrankreich überhaupt verteidigen wollte. Das für die Provencalen sowieso als Fremde im Norden empfunden wurde. Denn IHR Land lag dort im Süden, am Mittelmeer.

Vor dem Hintergrund einer relativ niedrigen Bildung, oder aber auch nur geringerer Indoktrinationsbereitschaft durch das Schulsystem, läßt sich Propaganda, läßt sich universalistische, pseudologische Motivation kaum etablieren. Die Soldaten blieben damals einfach, was sie waren: Menschen, die nach dem jenem Urteilshorizont dachten und handelten, der eben ihrer Lebensumgebung entsprach. 

Wenn sie dennoch kämpften, und auf deutscher Seite mit den zumindest bis Mitte 1918 geringsten Desertionsraten, taten sie es, um zu überleben, um den mitleidenden Kameraden nicht im Stich zu lassen, den eigenes Versagen das Leben kosten konnte (und umgekehrt), als Sklaven eines Apparats, gegen den zu kämpfen unmöglich war. Während der Krieg, den sie nun erfuhren, mit vorhandenen Vorstellungen nichts gemein hatte. Denn da ging es nicht um Heldentum und Schneid und Angriffselan. Hier hatte man es mit einem völlig neuartigen, anonymisierten Töten, einem Krieg der Statistik zu tun. Einen Feind als Person bekam man im Westen von 1915 bis Mitte 1918 nur selten zu Gesicht. 

Alles menschliche Leben spielte sich unsichtbar, weil unterirdisch in Bunkern, Gräben, Gefechtsständen ab. Die Gefechtsfelder zwischen den je feindlichen Linien wirkten wie eine einzige Leere. Die Soldaten begriffen ihr Kämpfen eher wie die Arbeit an einem Fließband, was sich an ihrer Sprache abzeichnete. Sie waren Arbeiter in einem modernen Betrieb mit guter Maschinenausstattung. Der würde siegen, der die bessere Technik, die größeren Materialreserven hatte, der seine Arbeit besser erledigte. Und Material waren auch die Soldaten.

76 Prozent der Verwundeten auf französischer Seite gingen 1914 bis 1918 auf das Konto von artilleristischen Fernwaffen. Nur 0,6 Prozent der Verwundungen auf deutscher Seite waren Stichwaffen, nur 16 Prozent Infanteriemunition, nur 1 bis 2 Prozent den Wirkungen von Handgranaten, und nur erstaunliche 1,7 Prozent Giftgas (ganz im Gegensatz also zu ihrer emotionalen Einschätzung) zuzuschreiben.

Dem Weltbild und Willen der einfachen Soldaten entsprach eben, was sie als Welt und Wirklichkeit erfahren hatten. Solche Menschen sind nicht offen für abstrakte Ideen und Ideologien, Ihrem Leben fehlt eben nichts. Sie sind nicht leicht als abstraktes Mittel der Politik zu gebrauchen, als Sache einer Politikerkaste, die von den Folgen ihrer Politik meist gar nicht direkt betroffen ist. Denn deren persönliches Leben ändert sich nicht wesentlich, ob ein Krieg gewonnen oder verloren wird. Diese Frage wird den Eliten zur bloßen Karrierefrage.




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