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Freitag, 1. Februar 2019

Im Fließen der Natur

Die britische Insel ist ebenso wie Irland am Rande eines Festlandsplateaus situiert. Wenige Meilen Richtung Atlantik, fällt der Meeresboden steil ab und bildet das Becken des atlantischen Meeres. Diese Kante zieht sich bis zum Golf von Biskaya, also bis zum Fuß der Pyrenäen. 

Was bei Ebbe und Flut passiert, schildert Halford John Mackinder in "Britain and the British Seas". Denn hier "wabert" die Wassermasse des Meeres, hebt und senkt sich im Rhythmus von etwa sechs bzw. zwölf Stunden. Dann spricht man von Ebbe und Flut. 

Einmal hebt sich, durch den Einfluß von Sonne und Mond, das Wasser des Atlantiks und strömt gewissermaßen seitlich in die flachen Küstengewässer über. Erst dabei erhält das Meer eine horizontale Bewegung, als Moment des Abfließens. Das zum horizontalen Zurückfließen wird, eben bei Ebbe. 

Deshalb sind die Strömungen entsprechend komplex. Denn hier fließen letztlich aus mehreren Richtungen kommend - immer zwar vom Westen/Südwesten, aber abgelenkt und vor allem von Westwinden getrieben sogar von Norden nach Süden, und umgekehrt - Wasser rund um die britischen und irischen Inseln, werden abgelenkt, nehmen topographische Engen, und so weiter. Das führt zum Beispiel dazu, daß sich auf der Höhe von Liverpool in der Irischen See die Wasser von Norden und Süden begegnen, was dem Liverpooler Hafen so gute Bedingungen gibt. Während an der Ostküste, von den Hebriden herab, das Atlantikwasser gen Süden läuft, bis auf die Höhe von London und der Themsemündung. Östlich davon streicht der von Süden kommende Atlantikstrom, der die Straße von Dover ("Kanal") passiert hat, die niederländische Küste entlang, bis er Hamburg erreicht. 

Im Bereich der Doggerbank, also mitten (bzw. etwas westlich) in der Nordsee, vermischen sich dann die leichteren Randströmungen der vom Norden wie vom Süden kommenden bzw. dort vorbeistreichenden, jeweils küstennahen Atlantikströmung. 

Interessante Erscheinungen gibt es bei vielen Flußmündungen, wie bei Southampton, wo eine Insel (Isle of Wight) vorgelagert ist. Denn hier mischen sich abgelenkte Strömungen von Nordost mit zufließendem Wasser aus Südwest. Was dem Hafen, der in der Flußmündung liegt, die allerbesten Bedingungen verschafft, weil er bei Flut hohen Wasserstand bekommt. Wie überhaupt in Flußmündungen das bei Flut eindringende Wasser die Flußströmung abschwächt und oft bis weit ins Landesinnere (wie bei der Themse) den Wasserstand erhöht. Umgekehrt erhöht sich bei Ebbe die Strömung und Menge des abfließenden Wassers, was fürs Auslaufen beste Bedingungen gibt. 

Die spanische Armada kann ein Lied davon singen, die im 16. Jahrhundert von diesen komplexen Strömungsverhältnissen nichts wußte, und den weit weniger englischen Schiffen, die mit diesen Gezeitenverhältnissen bestens vertraut waren, weit unterlegen waren. 

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Eindrücklich schildert Mackinder, dessen Hauptthese ist, daß sich die politische und außenpolitische Richtung eines Landes aus seiner topographischen, geographischen Situierung wie ein als Auftrag immer bestehendes Gerichtetsein ergibt - vereinfacht gesagt: Die Landschaft, die Natur hat "eine Richtung", eine allem menschlichen Siedeln zugrunde liegende geographisch vordefinierte Gespanntheit - wie sich die Situation Englands  im frühen 16. Jahrhundert verändert hat. Denn mit der Entdeckung von Amerika ist das Land von seiner zuvor völlig exponierten Randlage plötzlich ins Zentrum der Welt gerückt. 

Denn mehr als nur auf Amerika war es sich plötzlich bewußt geworden, daß es sogar vom Pazifik - über die arktischen Gewässer, den Nordpol - nur durch klimatische Bedingungen getrennt war. Ansonsten sah sich England so positioniert, daß es die gesamten Weltmeere beherrschen konnte. 

Analog zu diesem "In die Mitte rücken" ist somit das veränderte Selbstbewußtsein der englischen Könige zu verstehen. Heinrich VIII. startete nicht nur die Reformation, die eine einzige Plünderungsaktion gegenüber der Kirche war, jede "theologische Begründung" wurde bestenfalls nachgeschoben, sondern von ihm geht auch der in seinen Nachfolgern mit allen Mitteln verfolgte Anspruch aus, die Welt zu beherrschen. 

Vielleicht hat sich nirgendwo auf der Welt der Gedanke des Renaissancemenschen so klar herausgebildet wie in England, auch in der Magie als dem eigentlichen "metaphysischen" Boden der Renaissance, die direkt in die Technik mündet. Er ist in der amerikanischen Sezession 1776 kulminiert, als es zur Bildung des ersten rein säkularen Staates der Weltgeschichte gekommen ist.

Entsprechend änderte sich die Politik der Insel. Bis zur Entdeckung Amerikas war England auf das Festland ausgerichtet. Von dem es nur durch die sehr schmale Straße zwischen Dover und Calais getrennt ist. Und auf die die fruchtbarste Landschaft, die englischen Mittelländer, ausgerichtet waren, die sie geomorphologisch sogar fortsetzten. Bis dahin, das nur nebenbei gesagt, also bis Heinrich VIII., galt England als Land, in dem es "jedem gut ging". Ab Heinrich VIII. wurde binnen eines Jahrhunderts das Land in sich in zwei Hälften geteilt: Die Besitzenden, die Herrschenden, und die Armen, das Proletariat. Aus der Insel, die nach Resteuropa offen, ja auf dieses ausgerichtet war, wo die Themse mit dem Rhein korrespondierte*, wurde eine Festung.

Das Land auf der Insel wurde zum persönlichen Eigentum des Königs und der ihm Nahen, und zum bloßen, eingezäunten, wie also "von Europa abgegrenzten" Objekt des ungezügelten Nutzens. Der der Weltbeherrschung dienen sollte. Aus der verbindenden Funktion des Kanals wurde eine trennende, abschottende Grenze. Während das restliche Europa, ja die gesamte eurasische Landmasse zu einem bloßen Faktor in dieser Zielsetzung herabsank. 

Spätestens ab dem 18. Jahrhundert hatte England diese Position erreicht. Nicht nur durch seine Flotten, die ihm ermöglichten, überall auf der Welt Krieg zu führen, sondern auch durch das akkumulierte Kapital. Das immer in Verbindung mit der militärischen Macht gesehen werden muß. Denn damit konnte England seine Besitzansprüche überall durchsetzen. Es konnte sogar Europa beherrschen, indem es den Restkontinent von den Meeren abschnitt. Was es mehrmals und erfolgreich als Kontinentalsperre unter Napoleon ebenso im wie Ersten und Zweiten Weltkrieg gemacht hat.




*Aus Untersuchungen des Meeresbodens heraus weiß man heute, daß bis nach der letzten Eiszeit die Themse in den Unterlauf des Rheins mündete, der weit nördlich in die heutige nördliche Nordsee (etwa in Höhe der Küste Norwegens) entwässerte. Erst zu jener Zeit wurde England eine Insel. Zuvor war es Teil einer großen nordwesteuropäischen Landsenke, die heute den Boden der Nordsee bildet. Dort wurden mehr Mammutskelette gefunden als im Rest der Welt zusammen.





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