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Donnerstag, 23. Dezember 2021

Auch das gehört unter den Baum (2)

Ein Symbol, ein Königreich für ein Symbol! Die Erlösungsidee. Die Feinde. Der Tod. - Käutner stellt ein mehr oder weniger zusammengeklittertes Symbol dar. Er macht Ludwig II. zum Sinnbild des Idealen, des Schönen, Guten, Wahren, das inmitten des Reißwolfs der Moderne untergehen muß. Die Welt ist brutal, und die Macht gehört den Skrupellosen. Aber nur die Schönheit kann Mensch, Kultur, Volk prägen, nur die (idealisch überhöhte, eigentlich aber als Sakrament mißverstandene) Kunst als Kult des Vollkommenen kann ein Volk zu sich selbst führen.

Richard Wagner sollte die Werkzeuge der Auferstehung der innersten Kräfte des Volkes schaffen. Denn so war dessen Werkverständnis, als Liturgie, in deren Grammatik sich die Grammatik des Ewigen enthält, an der der Einzelne vorbehaltlos wie an einer Kommunion teilhat. Was viele nicht wissen ist, daß sein Nibelungenring (insbesonders Rheingold) eine fundamentale Kapitalismuskritik zum Inhalt hat, als das alles wahrlich Menschliche, Hohe Zerstörende.

Das Volk, in dem es noch 1850 keinen Betrieb gab, der mehr als zwanzig Beschäftigte hatte, das also (wie die Tiroler, übrigens, die sich aber noch radikaler der Moderne gegenüber abgeschottet halten konnten) seinen einfachen, gottverbundenen Alltag lebte. Als Kleingewerbetreibende, als Handwerker und Bauern, das sollte nicht diesen Kräften des Todes anheim fallen, die damals schon Bayern - vom Norden her, von Nürnberg, Niederbayern, Franken her, wo Unternehmer aus Restdeutschland bereits ihre Produktionsstätten hatten, und das "kapitalistische Potential" sahen, das in diesem Land lag - zu überschwemmen und zu beherrschen - zu "nützen", nennt man da wohl heute - suchten. Die längst die Mehrheit am Königshof auf ihrer Seite hatte. Die alle nur "das Beste wollten". Jaja, das Beste. Fragt sich halt: Für wen? 

Ich habe viele Politiker dieser Neuen Zeit kennengelernt, solche Kontakte waren für Jahre sogar Teil meiner Profession. Ich weiß, daß die allermeisten viel darüber reden, wie ehrlich sie es meinen, und bei einem Glas Wein beim Buffet glaubt man es ihnen fast, weil man sich von der Naivität, die sie vorspielen und in der sie sich - wie an Ludwig II. orientiert! - schon postulatorisch als tragische Opfer etablieren, überrennen läßt. Aber je weiter weg sie einem werden, desto weniger glaubt man es ihnen noch. Man erkennt ihre Schwüre als bloße Rhetorik, sieht ihre Interessen viel klarer, durchschaut ihre politischen Programme als Nebelgranaten, die die wahren Verhältnisse verschleiern sollen. Es gibt kaum ein Übel das uns mehr in den Abgrund gezogen hat wie "professionelle Politiker."

Ludwig, der ohnehin keine Kraft zum Mann hatte (seine Zähne waren schon als Zwanzigjähriger schwarz und lückenhaft, weshalb es fast kein Bild von ihm gibt, auf dem er den Mund nicht verkniffen zusammenhält, was meist und fälschlich als Gemütszustand gedeutet wird - ein Mensch, der keinen "Biß'" hat, wie man so sagt) hat mehr und mehr und schließlich völlig resigniert. Und wir wollen es Käutner zwar verzeihen, daß er die Problematik des Homosexuellen nicht thematisiert, sondern die Tragödie der Moderne selbst, in ihrem zerstörerischen Furor, mit dem sie im Namen des Mammons das Gute Schöne Wahre wegwirft, in den Mittelpunkt seiner Ludwig-Deutung stellt. Aber uns muß damit auch klar sein, daß Käutner nicht Ludwig II. verstehen lassen wird. 

Ludwig hat wie jeder Homosexuelle sein Leben, das doch so einfach eigentlich war bzw. ist, durch gezielte Dramatisierung und Inszenierung "verkompliziert", komplexer dargestellt, als es je war und ist. Wenn man also weiß (weil liest; mehr Zugang zu historischen Daten haben wir ja nicht mehr) wie zerrissen Ludwig zwischen dem Betschemel in seinem Schlafzimmer einerseits, und seinem ungezügelten Triebleben anderseits hin- und herpendelte, dann begreift man ihn erst. Die Details, die zweifelsfrei belegt sind, wie er schon als junger Mann lebte, sind abstoßend und erschütternd, ein "einmal mehr" wie Homosexuelle in Wahrheit leben. Und umso beflissener Mythenkränze um ihr eigenes Leben flechten, die ins Ästhetische heben sollen, was vom Schönen fehlt, und das ist ihr ganzes Leben.

Vielleicht sollte aber der geneigte Leser einmal recherchieren, wie Ludwig schließlich auf Neuschwanstein lebte. Ludwigs homosexuelle Lebensweise wurde sogar (mit vollem Recht) als Staatsgefahr gesehen. Er war nicht nur erpreßbar, das wäre zu einfach. Ludwig war ein Loch in der Decke, unter der jede hohe Politik verbleiben muß. Unzuverlässig, labil, unsachlich und invertiert. Insofern war seine Absenz von den offiziellen Geschäften, die immer vollkommener wurde, sogar ein "richtigerer Schritt". 

Man ließ ihm seine Spielwiesen, seine als haarsträubend weil "zwecklos" (aber ebe nicht: sinnlos! Solche Aussagen kommen im Film sehr gut. Ludwig wollte dem Volk Horte der Schönheit und des Ewigen schaffen, an denen es sich stets wieder regenerieren konnte) empfundene Bauwut (die man freilich dem Familienvermögen der Wittelsbacher anlastete, das Ludwig nahezu aufbrauchte, so wie er vermutlich den seit der preußischen Okkupation Nordwestdeutschlands verschollenen Welfenschatz aufbrauchte), seinen verschwenderischen Lebensstil, verlangte aber dafür, daß er sich aus allem heraushielt. Man muß es schon so sehen, daß Ludwig damit sein Volk im Stich ließ, es gegen die Anbrandungen der Neuen Zeit nicht schützte, oder zumindest verzögerte, verhinderte, so gut er eben noch konnte. Also lebten die Leute, wie sie wollten, und das ist ohnehin meist das richtigste Konzept. Es war wohl der Grund, warum Bayern in Deutschland immer eine Art Gelobtes Land blieb. Das sich liebte, weil es seinen von Gott geschickten König liebte.

War Ludwig geisteskrank? Der Film läßt es unbeantwortet und offen, zeigt aber einen Menschen, der völlig in seine Vorstellungen abglitt. Was wiederum den Schilderungen entspricht, die die Dienerschaft über ihn hinterließ. Aber seine Liebe zum Schönen war auch sein Verhängnis. Denn niemand kann auf Dauer aushalten, so hinter seinem Anspruch hinterher zu bleiben, und täglich noch dazu diesen Anspruch kraft der selbst gewählten Architektur vor Augen gehalten zu bekommen. Massiv, wie der unüberwindliche Vater. Das muß fast in Schizophrenie enden. Insofern sind die oft mit größtem Eifer geführten Diskussionen um seinen Geisteszustand mit gewisser Zurückhaltung zu betrachten. Krank war er wahrscheinlich nicht, dazu konnte er viel zu sachlich bleiben. Aber er inszenierte sich als Kranken, als Lebensstil, und blieb meist darin.

So und nicht anders ist wohl die Geschichte des Ludwig zu sehen. Die man aber ausblenden sollte, wenn man Käutners Film ansieht, der EINEN König darstellt, der Symbol ist - nicht unbedingt das Leben Ludwigs II. Man kann und soll bei diesem Film deshalb weinen, jawohl. Weinen über das, was wir sein könnten, aber nicht sind, sein hätten wollen, aber nicht wagten zu sein. Weinen über unsere eigenen Sünden also. Nicht so sehr über Ludwig. 

Weinen darüber, wie unsere Finger am Golde hängen. Das Ludwig mit aller Kraft verachtete und in die Seen der Heimat stieß, aber doch so sehr brauchte. In deren einem See, dem Starnberger See, er dann sterben sollte, gewissermaßen dem versenkten Golde folgte. Ermordet, das kann man recht sicher sagen, erschossen von preußischen Geheimpolizisten. Der Arzt war Kollateralschaden.

Betrachtet man die Bayern als Volk (in Wahrheit sind es ja auch Völkerschaften, fragen Sie doch Franken oder Oberpfälzer) unter diesem Symbol, bleibt das Urteil ambivalent. Denn es ist doch auch seltsam, daß eine Armee, die von Ludwig nahezu demotiviert wurde, und trotz nominell beträchtlicher Stärke die Selbständigkeit des Königreichs in furchtbaren Niederlagen gegen die Preußen verspielte, fünf Jahre später im Frankreichkrieg die Speerspitze der militärischen Kraft des Deutschen Bundes (und dann Reiches) wurde. Gefürchtet und von den besiegten Franzosen ob ihrer Brutalität (Léon Bloy schildert es in verstörenden Bildern) gefürchtet, haben ausgerechnet die Bayern den Ruf der gesamten Reichsarmee nicht im Erfolgreichen belassen, sondern ins Furchtbare verschoben. Noch 1914-18 war das zu spüren.

München ist heute (neben Hamburg) das Zentrum der Homosexualität in Deutschland, Bayern mehr zwischen Moderne und Tradition zerrissen, als es aussehen könnte. Und es ist nach dem Zweiten Weltkrieg über die zahlenmäßig durch die vertriebenen und hier angesiedelten Ostdeutschen, die die Hälfte der angestammten Bevölkerungen ausmachten, bis zur Unkenntlichkeit verdünnt worden. Sodaß im Verein mit der Lebensweise des Wirtschaftswunders das Land wohl endgültig seine Regenerationsfähigkeit eingebüßt hat. Freilich nicht anders, als die übrigen Völker Europas. Aber auch Bayern wird sich nicht mehr zu seinen eigenen Wurzeln erheben können, Ludwig hin, Ludwig her. Und es wird auf mittlere Frist die Geldmaschine Deutschlands bleiben. 

Aber leben, kann man dort wenigstens, im Land unter dem "Kini" noch rudimentär, fragmentiert leben? Ich glaube nicht. Dazu hätte es genau in diese entscheidende Wendephase des 19. Jahrhunderts einen starken König gebraucht. Das war Ludwig nicht, und das waren im übrigen auch seine Nachfolger im Amte nicht.

Einen Wirklichen König also hätte es gebraucht. Keinen der sich so leicht in die Flucht schlagen ließ wie Ludwig II. Dennoch hat Bismarck den Bayern so genannt. Aber Bismarck wußte gar nicht, was wirklich ein König war. Er hatte nur seine politistischen, protestantischen Konzepte. Auch er war also bereits neuzeitlich und zerrissen, und tat, was er nicht tun wollte, sondern meinte, im Rahmen der Ablaufoptimierung und Eigendynamik eines zum Zentralstaat gemachten Reiches tun zu müssen. Tragik und Tragödie, das ist also die deutsche Geschichte in diesem Zeitraum, einmal mehr. 

Die, die in sich so verräterisch-gefährliche Musik Wagners zu einer wahren Gefühlsbombe machen kann, der Leser und Seher sei gewarnt. Diese Musik ist geschaffen, um ein Volk zu (in)formieren. Der Einzelne ist ihr vielleicht gar nicht gewachsen. Ich habe noch niemanden erlebt, der Wagners Musik mochte, und nicht selbst dem Boden entrissen war, auf dem er stand. Die Wurzeln waren zum romantischen Traum geworden. Darf ich hinzufügen, daß ich viele Homosexuelle kennengelernt habe, die Wagner liebten? Sicher Zufall, nicht?

Aber anders leben, anders denken, anders sein ... Wollen wir Ludwig als Repräsentanten dieses unseres eigenen höchsten Wunsches annehmen. Wen interessiert die Groschenzählerei des Geizhalses und die Erbsenmentalität des Mathematisierers, der doch von der Welt so gar nix versteht. Sterben wir vor Weihnachten noch einmal mehr. Noch einen Schritt vollkommener als letztes Jahr. Wann sonst sollten wir getröstet werden, wann sonst Hoffnung schöpfen? Am Jesuskind in der Krippe, diesem König der Könige. Und, ja, tatsächlich, am ... imaginativen Bayernkönig. Der in seinem Schloß hoch oben auf den Bergen lebt und zu uns herabblickt. Von dort oben, wo die Gipfel schon in den Wolken verschwinden.

Fort von den bösen, rohen Menschen wollte Ludwig. Wer wollte es ihm nicht nachfühlen. Es ist die Sehnsucht nach dem, was wir verloren. Und die tragische Hoffnung auf das, was wir einst wiederhaben werden. Das ist mehr als verständlich. Aber vergessen wir das eine nicht: Das Jesuskind hat die gegenteilige Bewegung ausgeführt. 



 
*091221*