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Dienstag, 21. Dezember 2021

Gang durch die Nachkriegslandschaft

Er war so einfach der Gedanke, und er schien sich erst in die lange lange Folge von Gedanken zu fügen, die seit Jahren und Jahrzehnten diese trainierten grauen Zellen durchwandert haben. Mal davon gekostet worden ist, mal nicht, mal ausgespuckt, mal verdaut, mal transformiert, mal weitergereicht, mal aufgeputscht, mal wieder beruhigt oder gar scheinbar eingeschläfert, mal in Reih und Glied, dann doch wieder in wildes Gestöber verscheucht, mal verspielt, mal herrisch vergattert. Bis ich merkte, daß sich etwas gesetzt hat. Ein kleiner, lehmbrauner Klumpen lag in diesem großen Weitling, wer weiß wie lange schon, entdeckt habe ich ihn erst unlängst.

Er schien erst so einfach herauszunehmen. Aber etwas sperrte sich denn doch, sobald ich ihn angriff.  Er stand vor mir, war schlicht und doch nicht in jener Weise erhellend, wie es solche Gedanken schon so oft zu sein gepflegt hatten. Warum mir nach langen Wochen und Monaten, in denen ich ihn mal hierhin, mal dorthin drehte, wieder weglegte, um doch wie um ein Heiliges Geheimnis zu kreisen, denn zu groß war der Moment des Eintreffens gewesen, warum mir also an jenem Morgen ausgerechnet Gottfried Benn in die Hände gefallen war, weiß ich nicht.* 

Aber es ist alles kein Zufall, und doch - und das ist der Kern, der sich dann langsam ausschälte - hat es alles nichts mit Geschichte zu tun. Denn die können wir nicht mehr haben, die können wir nicht mehr betreiben, die können wir nicht mehr schaffen. Dazu müßte es Geist und Wahrheit geben, dazu müßte es einen Weltbesitz geben, der einerseits aus gereiftem Leben, anderseits aus gedachtem, durchgekautem, durchgeschwitztem Denken erstanden ist. 

Was wäre aber, wenn wir uns seit diesem Krieg in einer nicht mehr enden wollenden Totenstarre befunden hätten? Was wäre, und es sprach je länger desto mehr dafür, wenn der Grund für die Stimmung, die aus den Bennschen Aufsätzen "Der Ptolemäer" spricht, für mich heute spricht, fast genau 75 Jahre später, der wäre, daß das, was heute an die Oberfläche kommt, nicht mehr und nicht weniger ist als die Tatsache, daß alles, was wir nach 1945 probiert haben, nur noch ein verzweifeltes "so tun als ob"-Leben gewesen wäre? Ein Versuch, auch ohne unser Zutun so etwas wie eine Zivilisation, eine Kultur, ein Volk und ein Leben in allen Bereichen, von Familie bis zum Ortsverein für Katastrophenschutz und Hühnerzucht, zu errichten? 

Was heißt - Versuch. Nein, einer Notwendigkeit zu folgen. Denn diese Zeit auf ihr Fazit zu bringen, das war uns nicht möglich. Da standen diese Männer mit ihren MP-Helmen und Maschinenpistolen, ihren Gardestiefeln und ihren Liedern von Moskau und den letzten Nächten in Petersburg. 

Denn Europa war nicht mehr. Es wird seither nur noch zu simulieren versucht. Die alten guten Ideen tragen nicht mehr, und niemand vermag noch auf ihnen zu bauen. Stattdessen wurde eine Barockfassade auf dem "Yankee-doodle-Dandy" aufgesetzt, der Hackbraten in Sauerrahmsauce gründete auf Burger King und  MacDonaldRomantik, die Bach-Kantate stand wackelig auf Rock n'Roll und Hiphop

Die Welt zerfloß aber derweilen, und sie tat es endgültig. Denn schon 1776 kam über den Atlantik erstmals zurück, und kündigte sich für 150 Jahre später diminutiv an, was die Rache der Verstoßenen und Verräter war. Die ausgezogen waren, um eine Kultur zu gründen, die erstmals auf dem Menschen aufbaute, den das Abendland als grüngallige Frucht bereits ausgesinthert hatte. Steinhart und unlebendig, giftig und böse, war die erste Kultur entstanden, die sich dann später Staat, und noch später Imperium nannte, und die nur auf der menschlichen Niedrigkeit aufruhen wollte. 

Eilfertig griff das Frankreich der Niederlage darauf zurück, das in seinem Dilemma der Königsabsolutisiererei, in dem schon ein unhaltbares Konzept des Gottmenschen auf Erden scheiterte, und köpfte wenige Jahre später ihren Deszendenten aus den Himmeln, ohne sich doch von ihm trennen zu können, um so die Legitimität immer noch vortäuschen zu können. Noch heute hängt ein guter Teil dieses Volkes an ihm, wie ein Bienenstachel, an dem das Leibinventar verbleibt, ist er einmal in menschliche Haut verstochen. 

Wie immer von England vergiftet, vergiftete dieses Land dann den Rest des Alten Kontinents, und rächte sich für seine Ausgestoßenheit vom Reich. Verschoß die Munition, die schon ein Descartes und seine ganze Entourage (die noch aus den Tagen der Sinai stammt, wo der Rumor gegen Mose ging, der Ruf nach dem tüchtigen Kain laut und lauter wurde) aufgekocht hatte, als Geschoße, die nur einmal treffen mußten - sie wirkten immer. Es waren Todesgeschosse. Und es gibt so vieles, das man nur einmal äußern darf, schon kann es nie mehr zurückgenommen werden. 

Ja, ist es nicht alles, was wir tun und sind und haben und sprechen? Nur einmal! Die Frage ist nicht nach der Wirkung, die Frage ist, ob diese Wirkung auf das Sein abzielt, oder den Garten der bitteren Früchte meint. Dieser Garten war es, den wir aufgerichtet haben, dieser Garten sollte uns nähren, und hat uns doch nur vergiftet. 

Und Gott? Gott war es gleichgültig, wie immer. Denn es geht ihm nicht um Republiken und Monarchien, um grüne oder gelbe Aprikosen, um güldene oder silberne Kragenspiegel. Und wir sollten es ihm gleichtun - im Spiel. Und in der Ernsthaftigkeit von dessen Regeln - als ginge es ihm nun doch ums Aussuchen des RICHTIGEN Kragenspiegels. Komischerweise ... hat Gott, dem alles wurscht ist, zu allem seine Idee, und die zu befolgen, darum geht es ihm, das ist seine Regel für uns.

Das Hören, das ist das Spiel des Menschen. Gottes Welt steht quer zu dieser, Welt, insofern aber ist sie vom Ewigen, und das in seine Geschichte zu tragen wäre des Menschen, der auf der Wutzel der Kirche sitzt, und sein Leben lebt, mit Hirschknöpfen und Sankta Barbara-Marmeladen, mit Strandkörben oder Buschwindröschen, Hirschgulyas, Fiakerfrühstücken oder Cremeparfaits für den Höhere Töchter-Empfang. Nur dieses eine zählt für ihn, das andere sieht er nicht einmal. Er überläßt es uns. Und will dann doch alles bestimmen. Das muß einem erst einmal einfallen. Als wollte er, daß es auch uns egal wird? Ja, so und nicht anders. Erst ernst, total ernst, und dann doch völlig egal. 

Aber wir haben das nicht verstanden. Sodaß wir uns immer mehr aufs Umgekehrte gestützt haben, wie Verdurstende auf die Fata Morgana. Und so taten, als hätten wir entdeckt, endlich entdeckt, daß es doch NUR um das ginge, was Gottes - nur hat es uns noch nie jemand gesagt. Dieses gottberauschende AufdemKopfStehen hat ein Marx für uns entdeckt, und ein Hitler, und ein Mao, und jeder Revolutionär auf dieser Erde. 

Und nur noch darum durfte sich Sprache und Denken drehen, die sich eine eigene Schafft vom Wissen baute, die er dann (auf den Kopf gestellt, wie gesagt) Wissenschafft nannte. (Wir wissen schon, mit nur einem f, aber es erklärt sich besser mit zwei.) Die Benn so ungefähr als "Witzgebilde der Leere, gefertigt aus Treppenschneiderei" bezeichnet. An Stellen, in denen er seine Veranlagung zum Mystiker verrät, und paßgenau bei Meister Eckehart endet. 

Nun stehen wir vor einem immer riesiger aufgetürmten, chaotischen Haufen von Nichts und Nochmehrnichts. Kein Ende ist mehr zusammenzufügen, kein Faden paßt mehr in eine Spule, eine Spule die zusammenhielte, und keine Frage ist mehr zu beantworten. Das Stückwerk fügt sich zu keinem Gebäude mehr. Und macht uns verloren, daß es einem zum Gotterbarmen wäre. Wirr und bloß stehen nun die Menschen in diesen Wüsten und von Bombentrichtern zerfurchten Straßen, auf deren Gehsteigen die Brennesseln wachsen, mannshoch, und wo Mütter ihrer Kinder wegen stehlen und rauben, weil sie das so selbstverständlich als Leben sehen.  

Nur auf diesen einen Augenblick also hat dieser Benn gewartet, dafür war er hergestellt, dafür war er geschrieben. Er sagt es sogar: Für diese einzelnen Wenigen geschrieben, vielleicht, vielleicht in der Zukunft Ferne, schreibt er.  Als ginge ich heute, in diesen letzten Tagen vor der Weihnacht 2021, in deren mittägliche Stunde die Glocken von Szentlélek hineinschneiden, um zum einzigen zu rufen, das in diesen Zeiten noch lohnt. Auf daß sich die Ewigkeit ausbreite wie der Schall, weil diese Welt nicht mehr zu retten ist, durch dieselbe eiskalte Landschaft des Winters 1947.

Als ginge ich auf denselben Straßen und Wegen, umschiffte die Trichter und hörte die Ruinen bersten und röchte, wo die Menschen ihre Notdurft verrichten, ihre Kleider wieder zusammenraffen, und in die Kneipe gehen, kurz öffnet sich die scheppernde Türe, und das Dudeln von "I'm just a lonely boy, only for Youuu - hihiiii, ..." Dann wird es wieder dumpf, die Tür schnappt nach dem letzten Weg, dann ist es still. Das Licht, das nach außen fällt, ist wie die Funzel einer abgeschotteten Kapsel, die durch das tiefschwarze All rast, in ein sicheres fernes Nichts, zwischen kleinen Funkeln durch, Sterne, sagt man. Als kümmerte es einen. 

In der Fülle der Zeit, in die tiefste Tiefe der Nacht, an diesem Höhepunkt des winterlichen Todes auf Erden, sprach der Engel Gottes zu Maria, um ihr die Frohe Botschaft zu künden: Den Anbruch der Neuen Welt. 

Denn nur dort, in dieser Krippe - oh, und ich weiß, wie kindisch närrisch mancher das sehen wird, aber ist es nicht diese Freiheit, die mich durchpulst: Kindisch närrisch sein zu können, vielleicht erstmals, oder noch nie so erstmals wie heuer? - finde sich jener Punkt, an dem eine Welt zusammenliefe. Nur aus diesem Querbalken zur Welt, kann das Vertikale der Dinge erstehen und eine Frucht bringen, die einem Lobpreis an den Schöpfer gleichkommt. Wo ein Tag es dem anderen, eine Nacht es der folgenden kundtut, eine Gestalt der anderen jenes Bildnis weiterreicht, das es selbst bereits empfangen und im Leibe genährt und geboren, als seine Zeit gekommen ward. 

***

Das hoffen wir, das glauben wir, das wissen wir. Also denn tun wir ihnen den Gefallen, den Verwirrten und den Zigarettenschmugglern und den Dieben und Betrügern, und schließen die Türen, damit sie durch die Trümmer streifen können, was immer sie dazu finden hoffen. Nur die Gnade kann noch trösten, wenn wir für ein paar Sekunden, Minuten oder einmal für eine halbe Stunde ein Loch in diese Zeit schneiden, und uns auf das Kochen der Marmelade, das Gelingen des Lackauftrags auf die Puschtebude, das Erstellen eins Puzzles oder in das rhythmische Klopfen zum Rauhnachtsmarsch oder das zweck-, und doch nicht sinnlose Spiel des Feiertagsgeredes verlieren. Wo das Fragen aufgehört hat, weil alles nur Antwort ist, der wir zuhören, an deren Herz wir unser Ohr pressen, und in deren Glanz wir unsere Augen versenken.

Wie selten sind sie geworden, diese Tätigkeiten, in die wir uns doch so versenken sollten, bis in die tiefsten Tiefen jagt uns der Drachenwurm und hetzt uns der Höllenhund.

Tun wir ihnen also aber den Gefallen, und schließen die Türen ganz fest zu, damit kein Laut mehr an unsere Ohren und Herzen dringt. Nur für ein paar Tage, nur für ein paar Momente, denn dazu sind wir legitimiert, ja dazu fordert man uns förmlich auf (und sollte uns das nicht etwas sagen? gerade wir werden dazu aufgefordert, uns aus dem Gemeinsinn zurückzuziehen! spüren wir nicht auch - auch - diese Befreiung von einer dämonischen Last?).

Um dann aus diesen einen Minuten, Sekunden oder ganzen heilften Stunden der Zeitlosigkeit, diesen seltsamen, unser Verstehen weit übersteigenden Enkapsulierungen, diesen Raumschiffen in eine verlorene Welt, jene Kraft zu schöpfen, die uns durchtragen soll, bis zu jenem Augenblick, in dem sich eine neue Geschichte der Menschheit begründen wird. Wenn der Krieg, den die Revolutionen begonnen und mittlerweile bis vor unsere Haustüre, ja bis in unsere Schlafzimmer getragen haben, endlich zu Ende gegangen ist.


*Wobei ich diesen Band seiner Werke (noch seltsamererweise) schon Monate zuvor aus dem Regalbereich "Gehört zum Kreis des Allerliebsten, ist aber doch nur Zweit-, ja verglichen mit dem Regalbereich da drüben fast Drittwichtigstes" genommen und auf den Stapel (die als eine nächsten Stufe der Leseerotik als Stapel mit jeweils gestufter Bedeutung um meinen Schreibtisch aufgetürmt sind) "Laß Dich nicht täuschen, denn das ist dringender als der zweite Stapel rechts zu lesen, obwohl Du Dich nie daran hältst, und jedesmal doch von den drei Stapeln rechts nimmst!" gelegt hatte, und (was das noch größere Wunder ist) immer wieder oben belassen hatte. Denn auf diesem Stapel landet viel, viel zu viel, sodaß ich diese Bücher in der Regel nach spätestens zwei Jahren (so lange liegen manche sicher schon dort, denn da kommt keines einfach weg) wieder in die Regale zurückordnen muß.

Ich sage ja: Wessen Leben aus solchen Problemen besteht, die er noch dazu so vorreiht, daß selbst für jeden rechtschaffenen Bürger Bestes oder Schlimmstes nicht wichtiger ist, der hat einen Sprung in der Schüssel. Außer er muß daraus schließen, daß er vermutlich doch Schriftsteller ist. Womit sich mein Innenleben endgültig als Pendelbereich zwischen Heinrich Spoerl, Rudolf Borchardt, Heimito von Doderer, Thomas von Aquin, Marc Bloch und Carl Jakob Burckhardt entlarvt.