Heute war A wieder da. Aber etwas stimmte nicht. Sie hat eine ziemlich propere Figur, um es so zu sagen, und wirkt vom ganzen Wesen her aufgeweckt, interessiert, ja lustig und zu jedem Unsinn aufgelegt, in ihrer schwarzen Lederhose und dem engen Shirt, das ihre feisten Brüste noch mehr betont, was sie ganz sichtlich nicht ungern hat. Hatte. Heute war ihr alles egal. Sie nahm die Bestellung auf, und nach zwei Sätzen bat sie um Nachsicht.
Krank?
Sie nickte.
Was ist Dir?
Ich war letzten Montag impfen.
Und seither geht es Dir nicht gut?
Ja, sehr schlecht. Ich war die ganze letzte Woche im Krankenhaus. Eine Infusion nach der anderen. Heute dachte ich, ich muß wieder arbeiten gehen, aber ich schaffe es fast nicht.
Wir kennen uns etwa drei Viertel Jahre. Da hatte sie hier halbtags zu arbeiten begonnen. In den oft unterbrochenen, meist auch nur kurzen Gesprächen (denn sie blieb stets aufmerksam, ob sich an der Kundenfront etwas tat, jemand etwas wollte oder brauchte), die sich vom ersten meiner Besuche an ergaben, herrschte von sofort eine ungemeine Vertrautheit, bei ihr, bei mir. Wir haben sofort gewußt, daß wir vom selben reden. Aber heute erst bat ich um ihre Telephonnummer. Denn ich mache mir Sorgen, und möchte sie anrufen, wenn sie beim nächsten Besuch wieder nicht da ist.
Darf ich fragen, warum Du impfen gegangen bist?
Sie hat jetzt Tränen in den Augen, zuckt mit den Schultern. Druck, murmelt sie dann, weil sie offenbar nicht will, daß es jemand im Lokal hört. Druck, überall so viel Druck. Hier, überall. Und ich möchte ja nach Wien ... Nie wollte ich mich impfen lassen, nie. Jetzt bin ich doch gegangen. Es geht mir nicht gut. Sie weint jetzt. Es war so viel Druck, sagt sie, und: Ich will nicht mehr darüber reden.
Dann dankt sie mir. Der Rat war gut, flüstert sie dann fast, ich mache es: Eine Zeile jeden Tag. Das Buch wird fertig werden, es wächst. Die Freude gibt mir Mut.
Ich gab ihr ein saftiges Trinkgeld, und sagte nichts dazu, daß das Bur Kifli (zum ersten mal, übrigens; ich war wohl verwöhnt) zäh weil wohl noch von gestern war. In diesen Wochen kommen so wenige Gäste aus Wien, da muß man für manches Verständnis haben.
Reden wir, wenn ich wieder gesund bin, ja?
Ich fühlte mich ziemlich schuldig, sie wirkte so schutzbedürftig, ihre Blicke empfand ich als Vorwurf: Ich hätte durchgehalten, sagt sie mit diesen Augen, aber niemand hat mich gestützt.
Ich fühlte mich schuldig und hilflos.
Am Heimweg kam aber Zorn auf, als ich an die langzottige (Siehe Anmerkung*) Redakteurin dachte, die im Fernsehen jeden mit Zynismus und Jauche überschüttet, der es wagt, an der Erlösungsbotschaft der Corona-Impfung auch nur ein Kleckschen zu sehen. Einzelfälle. Alles aufgebauscht. Unbedeutend. Wissenschaftlich erwiesen. Winzige Prozentzahlen. Verschwörungstheorien. Schwurbler. Corona-Leugner.
Ja, ich leugne, mehr denn je. Ich kannte bis vor vier Wochen nicht einen einzigen sogenannten Corona-Fall, und der, der mir dann zu Ohren kam, wäre auch als mittelschwere Grippe durchgegangen. Ich kenne aber mittlerweile ein Dutzend Menschen, die nach Impfungen gesundheitliche Probleme hatten, und zwar sogar schwere.
Im Geiste sah ich dann den Präsidenten der Ärztekammer, wie er A am Telephon erklärt, daß das ganz sicher nichts mit der Impfung zu tun habe. Wahrscheinlich habe sie einfach vor Wochen eine Grippe übergangen, das werde meistens unterschätzt. Oder einen Kater vom Adventmarkt, denn das sehe er mit freiem Auge, daß sie nicht ganz nüchtern sei. Mit diesen glasigen Augen ...
Bagage, von der wir systematisch abhängig gemacht wurden, sodaß wir jetzt völlig hilflos sind, wenn sich ein gesundheitliches Problem auftut. Das einzige, was die Ärzte heute von den alten Badern unterscheidet ist aber, daß sie größere Autos haben. Und schnellere. Und eine riesige Entourage von Nebelwerfern, die ihnen hilft, über die Dächer zu entkommen, während sie den Behandlungsopfern erklären, daß sie zu dumm sind, um die Größe der Heilstat zu erkennen, die an ihnen vollzogen wurde.
Diese Zeilen sind für A. Ein Artikel ist das mindeste, was ich ihr schulde. Sie wird sich freuen, wenn sie über sich liest, wenn sie hoffentlich bald wieder auf dem Damm ist.