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Donnerstag, 23. Dezember 2021

Gibt es die große Rückzugswelle?

Wie viele Leute kochen derzeit ihr Süppchen, wie viele Stellungnahmen und Auftritte erleben wir, in denen die Proponenten nichts anderes tun als unter den Vorzeichen der pandemischen Aufregung eine angebliche Realität vorzustellen, die in Wirklichkeit nur ihren Vorstellungen und Wunschträumen entsprungen ist. Da wird als Volksmeinung und -stimmung und -bewegung vorgestellt, was es so gar nicht gibt. Das höchstens ein gewisses Lüftlein im Oberstübchen ist, oder von Medien in ihrer wahrlich schändlichen, sträflichen Bereitschaft die Wahrheit zu ignorieren in die Schlagzeilen heben - obwohl es das gar nicht gibt.
Wir werden seit zwei Jahren nahezu pausenlos von Nachrichten beschossen, die sich nur um ein Thema drehen - Corona, Pandemie, Impfung. Diese Dichte von Information ist nicht nur nicht verarbeitbar, sondern sie hat die Basis der Beurteilung des Eintreffenden erst erschüttert, und dann der Erdung entrissen. Mittlerweile schweben wir in nicht mehr weiter verortenbaren Räumen, und wissen buchstäblich nicht mehr, wo wir sind, und womit wir es zu tun haben, sobald wir etwas begegnen. 
Nicht nur das, hat diese Entwurzelung unseres Geistes alle übrigen Bereiche unseres Lebens mitgerissen. Sodaß es keinen Bereich mehr gibt, in dem unser Urteilen sicher und fest in unserer eigenen Lebenserfahrung und -rezeption ruht. 
Das macht einerseits extrem anfällig für jede Form von Desinformation, und es macht anderseits anfällig für Hilfs- und Notgriffe, in denen wir an Teilgewißheiten oder -richtigkeiten mit einer Panik festhalten, die unsere Sichtweisen in der Kommunikation mit der Welt und anderen zu fanatischen Scheinsicherheiten werden, die unsere gesamte Existenz in Chaos und Abgründe stoßen könnten, sollten sie neuerlich verunsichert werden. 
Das erklärt unter anderem, warum sich die zwischenmenschlichen Haltungen in bestimmten Bereichen (wie "Impfung" vs. "Nicht-Impfung") in lebensbedrohliche bzw. -erhaltende Kämpfe um alles oder nichts verwandeln.

In diesem Informations-Overload, dem sich keiner entziehen kann, weil er sogar die alltäglichsten Gespräche dominiert, wir pausenlos durch Verhaltensregeln und Maßnahmengeboten per Zwang in Disputsnotwendigkeiten um immer ein- und dasselbe Thema gestoßen werden, versuchen jene ihr Glück, die mit Scheinsicherheiten, scheinbar feststehenden Geschichten und Richtigkeiten (die sich als Wahrheit ausgeben) Fundamente anbieten wollen. Um uns, sobald wir aufgesprungen sind, in ihre Richtung zu ziehen. Der Kampf um Anhänger, um "follower", um eine Gemeinde von Gläubigen, tobt wie vielleicht noch nie.

Selbst deutliche Erkennungsmerkmale werden dabei ignoriert, und unter dem Druck des Aktuelleren ins Vergessen verdrängt. Erkennungsmerkmale wie ein Vergleich von Sicherheiten und Gewißheiten, die früheren Gewißheiten, die nie widerlegt worden sind, widersprechen. In uns bilden sich damit immer größere, umfassendere Kloaken an Sicherheiten, Richtigkeiten und Wahrheiten, die ein nicht mehr ordnenbares Chaos bedeuten, in dem wir Spannungen aufbauen, die sich garantiert entladen werden. Ohne sagen zu können, wo und wie, denn komplexe Systeme wie diese Richtigkeitskloaken in uns führen ähnlich wie die zahllosen kleinen und mittleren Erdverschiebungen in Erdbebengebieten zu Ausbrüchen an unvorhersagbaren Stellen, die in keinem direkten Zusammenhang mit Ursachen stehen. Der berühmte Schmetterlingsschlag über der Eifel also, der zu einem Orkan in Brazilia führt.

Dazwischen gibt es immer wieder Ordnungsversuche, erzählte Deutungsmuster, die zusammenfassen und beurteilen helfen weil Standorte vermitteln sollen. So breiten sich neue Mythen aus, so bilden sie sich, die zu einer Deutung des gegenwärtigen Geschehens führen, die nicht dessen realen Bewegungen entspricht. 

Einer der Mythen ist die von der großen Klärung, die die Coronapanthemie angeblich allen Menschen brachte und bringt. Von der großen Klarheit, die alle erleben. Von der großen Wende, die nun alle vollziehen. Von der großen Lebensumstellung, zu der sich alle angeblich so leicht nun entschließen. Von der großen Resignation, in der sich die Menschen weltweit sagen: Scheiß drauf. Mit dem Rücken zur Wand, mache ich aber dafür, was ich wirklich machen will.

QR Studie aus Australien

Eine Studie aus Australien hat dieser (in unterschiedlichste Formen freilich) so oft kolportierten Behauptung auf den Zahn gefühlt. Hat zu ermitteln versucht, ob die Leute nun wirklich ihre Jobs kündigen, neue Berufe ergreifen, ihre Wohnorte wechseln, und endlich das Erträumte in die Tat umsetzen. 

Oder die lieber in die Frührente gehen, um überhaupt aus dem Getriebe auszusteigen, das sie als so belastend empfinden, um künftig zwar kleinere Brötchen zu backen, diese aber dafür ruhiger genießen zu können. All das wird ja in den Medien auf und ab gebetet, all das hören wir ja ständig. 

Daß wir aber besser darüber nachdenken sollten, warum das so ist, warum eine Wendestimmung erzielt werden soll, denn so sieht es aus, wem das also nützen könnte, legt die Auseinandersetzung mit den Tatsachen nahe. In ihrer Studie kommen die Autoren zu dem überraschenden Schluß, daß die Leute unter der Corona-Pandemie der letzten zwei Jahre nicht flexibler, sondern im Gegenteil: Unbeweglicher, starrer, vermutlich auch vorsichtiger geworden sind, ihr Leben unnotwendig weiter zu destabilisieren. Selbst die Bereitschaft den Beruf zu wechseln, ist deshalb deutlich gesunken, und zwar um rund 10 Prozent. Jährlich. 

Vermutlich hat das mit der extrem gestiegenen Angst zu tun, aber insgesamt ist in Australien die Zahl der Menschen, die Beruf oder Wohnort wechseln, dramatisch zurückgegangen. Die Menschen bleiben also wo sie sind, halten fest, verharren, sind ängstlich bedacht, nichts oder nicht noch mehr zu verlieren, das ist die Stimmung. Und nicht etwa ein aus der Resignation einer übermächtigen Pandemie erwachsener, gestiegener Mut oder sogar Leichtsinn, noch einmal etwas grundsätzlich Anderes zu probieren. Das alles gibt es nicht. 

Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein - Verändert hat sich nur eines: Die Konzentrationsprozesse entlang ganz bestimmter Bruchlinien sind intensiver geworden. Die Metropolen der Welt - New York, Manila, London, Sao Paolo, Kapstadt, Kairo, Nairobi, Mexico City und wie diese Megastädte alle heißen, die in den letzten wenigen Jahrzehnten aufgeschossen sind - ziehen an und saugen so sehr wie noch nie die jungen, gut ausgebildeten Menschen auf. 

Lieb Mama, ich bin da, Hänschen aus Amerika - Damit wird ein brain drain beobachtet, der gar nicht länder- oder soziospezifisch ist, sondern globalen Gruppenmerkmalen folgt, und jeweils psycho-soziale Ursachen hat, die durch die spezifische Pandemiesituation mit ihren Lockdowns und Isolationshaftanstalten (zu der die Wohnungen werden) bestimmt sind. Die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf die Menschen haben. Es werden Karten deshalb neu gemischt, weil in der Pandemie die Menschen NOCH WURZELLOSER geworden sind, und damit Dinge anders bewertet werden. 

Wer zwei Jahre ins Internet gepreßt wird, weil das angeblich die einzige Möglichkeit zur weiteren Teilhabe am Leben bedeutet, wird auch diesem Internet entsprechend geprägt. 

Frei nach dem Motto Das Medium ist die Botschaft verlagert sich menschliches Interesse auf Flüchtigkeiten und Möglichkeiten, durch Stromimpulse Welterscheinungen aufrecht zu halten, zu gestalten und zu verändern. Dazu braucht es aber eine gewisse prinzipielle Ungeprägtheit, wie sie junge Menschen eben haben. 
Wer an der (vorigen) und so ganz anderen, reichhaltigeren, sinnlich umfassenderen und weniger rationalen (was nicht heißt: irrationalen!) Realität geprägt ist, bleibt stabiler, geduldiger, und kann auf den Moment warten, zu dem sich das Leben wieder auf seine wirklichen Geleise stellt. 
Diese Geduld haben junge Menschen nicht. Ihre Energie ist noch deutlich mehr auf das Aktuelle ausgerichtet und von dort abhängig, sie haben noch zu wenig, das sie aus sich heraus nährt sozusagen - sie brauchen mehr Nachschub. Den versprechen die Großstädte, mit ihren engen Takten und hektischen Bewegungen, den blitzartigen Umschichtungen und Veränderungen der Anzeigetafeln. Und das Leben in der modernen Groß- und Riesenstadt ist ein Leben nach Anzeigetafeln. 

Für uns stellt sich die Sache noch deutlicher als Identitätsangst dar. Bei den einen, sie nicht weiter zu verlieren, weil die Einschränkung der Lebenszusammenhänge und -beziehungsbrücken vereinzeln. Das Ich aber entsteht im Du. Fehlt das Du, schwindet das Ich, auf diese einfache Gleichung ließe es sich herunterbrechen, was in dieser Seuchenbekämpfung weltweit geschehen ist und geschieht. Nimmt man einem Menschen das Umfeld, so nimmt man ihm sich selbst weg, löst ihn auf. 

Das ist auch das klarste Merkmal dessen, was man mit Sklaverei bezeichnet. Sklave wird, wem seine Identität geraubt wird, und der nun zu einem bloß aktualistisch bestehenden Funktionenbündel wird. Funktionen, die nicht einmal von ihm bestimmt sind, sondern aus zugeteilten Aufgaben resultieren, die wiederum mit einem selbst, seiner Vergangenheit, seiner Identität soweit sie bereits besteht, nichts zu tun haben. 

Das empfinden die Menschen als besondere Verletzung und Entwürdigung: Unabhängig von "sich selbst" etwas tun zu müssen, zu dem sie keinen Bezug haben, zu dem sie aber gezwungen werden. Im besonderen werden somit Aufgaben, die als fern der eigenen Vernunft gesehen werden, die nicht in den Vernunfthorizont der Menschen passen, die aber zu gewissem Verhalten gezwungen werden, als entwürdigend und peinigend empfunden.


*101221*