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Montag, 6. Dezember 2021

Leben zielt auf Sichtbarkeit (1)

Adolf Portmann weist auf eine Erscheinung hin, die ihm das erste Mal bei Caliphylla aufgefallen ist, einer kleinen, hauslosen Schnecke, die so in die Algen des Meeres eingepaßt ist, daß sie eigentlich nicht sichtbar ist. Denn ihre Verdauungsorgane erweitern sich in ihrem Lebenszyklus in Hautblätter, die sie verästelt durchdringt (und formt), die den Algenblättern so ähnlich sind, daß sie nicht unterscheidbar sind. Die Schnecke ist also "nicht auf Sichtbarkeit ausgerichtet", wie Portmann festhält. Das macht eine Erscheinung umso merkwürdiger, die er beobachtet hat, und die etwas von Gesetz an sich hat, das uns etwas ahnen läßt, ohne daß wir es der Kritik einer Formulierung aussetzen könnten. Wie so vieles eben in der Natur.

Solange die Schnecke noch durchsichtig ist, also "keine Haut" hat, ist alles, was an ihr sichtbar ist, wohl geordnet und symmetrisch. Dann beginnen die inneren Organe "Außen(haut)" zu entwickeln, das heißt, daß sie wie oben gesagt in die Verästelungen der "Blattimitationen" gehen. Je mehr sie das tun, desto blickdichter werden die Tierchen. Und desto mehr wird an ihnen ein Außen (Haut) sichtbar - und nur noch die. 

Zugleich passiert Folgendes: Die inneren Organe entwickeln sich weiter, werden größer, und nun ordnen sie sich im Körper der Schnecke neu an. Die Schnecke verliert mit der Größenentwicklung die optische Symmetrie und Harmonie ihrer Organe, sie werden gewissermaßen "willkürlich" in ihrer Anordnung, und zielen ja nur noch auf das Außen, die "Haut" ab. Auf das Sichtbare an der Schnecke, das einhergeht mit dem Blickdichten der Außenhülle. An dem nun auch Farben zu schillern beginnen, ganz wie die Algen ihrer Umgebung. 

Diese äußere Gestalt aber ist nun symmetrisch und wohl geordnet. Nur darauf kommt es nun der Schnecke an, und dafür dienen die inneren Organe, die vom Außen, von der symmetrischen Gestalt, in Dienst genommen sind. 

An allen höheren Lebewesen ist etwas Analoges zu beobachten. Das Außen, die "Haut" und damit die Sichtbarkeit weil Reflexionsfähigkeit ist der Zielpunkt der inneren Organe bzw. könnte man es auch so formulieren: Der Organismus strebt, von der Zelle ausgehend, in der noch alles durchsichtig aber symmetrisch geordnet ist, auf eine Sichtbarkeitsebene zu, in die hinein auch die Symmetrie und Harmonie der Erscheinung wandert. Exakt im selben Maß, als gegenläufige Entwicklung, wird das Innen unsymmetrisch-"willkürlich".

Was uns das lehrt, frägt Portmann? "Ich weiß es nicht," antwortet er. "Aber ich ahne, daß diese Erscheinung, daß sich das Interesse eines Organismus mit seiner Reifung auch auf die Rolle der Oberfläche hinzielt, sich nach außen verlagert, sich also auf eine Kommunikation mit dem anderen hin entwickelt, uns ungemein viel zu sagen hat."

Wir erweitern aber die Kreise, indem wir mit einer nächsten Episode aus seinen Schriften voranschreiten. Der Leser möge auch hier seine eigenen Schlüsse ziehen.

Beginnend damit, daß es mit der Entwicklung der Naturwissenschaften (wie wohl jeder Wissenschaft) eine eigentümliche Bewandtnis hat. Daß nämlich keineswegs immer alle Entdeckungen gleich in deren Diskussion einwirken. Manche "schlummern", und zwar lange. Wie die Entdeckung des französischen Pierre Lyonnet, der wie fast alle großen Entdecker der Wissenschaftsgeschichte nur in seiner Mußezeit "forschte", denn Lyonnet war eigentlich Advokat. Eine seiner wichtigsten Entdeckungen datiert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und wurde 200 Jahre lang wieder "vergessen".

Bis ins 20. Jahrhundert hinein glaubte man aber, daß Insekten keine Hormone hätten. Was ihre Entwicklungen also immer anschob, wußte man nicht, oder stellte darüber Theorien auf. Aber Lyonnet hatte schon 200 Jahre zuvor entdeckt, daß es an den Gehirnen von Insekten eine Zellgruppe gibt, die er schließlich als Drüse (genannt Prothoraxdrüse) identifizieren konnte. (Man sieht im Experiment, was sie bewirkt, indem man sie aus- oder anschaltet.)

200 Jahr später konnte nachgewiesen werden, daß es diese Zellgruppe bzw. Drüse ist, auf die es bei der Entwicklung von Insekten ankam. Sie produziert jene Hormone aus, die über das Blut in die Organe der Insekten wandern, und dort Entwicklungen starten. Ohne dieses Hormon verbleiben die Zellgruppen, die Organe werden sollen, in Ruhezustand. 

Aber die Drüse ist selbst ins Gehirn eingebunden, als nur von dort aus begreifbar. Und was macht das Gehirn? Es gibt der Drüse das Signal, wenn es zuvor eine Kältephase durchgemacht hat. Sie braucht diese Bedingung, für längere Zeit unter fünf Grad Celsius verblieben, und dann wieder erwärmt worden zu sein (Passivum, denn das kann bei Insekten nur von außen geschehen: sie können die Körpertemperatur nicht selbst regeln, sind also völlig und lebensnotwendig ins Außen eingebunden). Erst dann gibt das Gehirn der Prothoraxdrüse das Signal, und diese beginnt das Hormon zu produzieren. Ungekühlte Puppen verwandeln sich nie in Falter.

Das kann man experimentell wiederholen. Eine Raupe des Seidenspinners (Portmann führt den beispielhaften Versuch an) läßt sich abkühlen, monatelang gekühlt halten, und dann zu jeder beliebigen Zeit wieder aufwärmen. Daraufhin entwickelt sie sich zum Falter weiter. 

C. Williams machte in Harvard dazu einen weiteren Versuch. Er entfernte unterkühlten Puppen das Gehirn. Diese Puppen hätten sich also nicht mehr weiterentwickeln können. Doch Williams setzte nun diese gekühlten Gehirne in Puppen ein, die NICHT gekühlt worden waren (und aus denen also nie Falter geworden wären). Das genügte, um nun auch hier die Metamorphose zum Falter auszulösen. Das macht also normalerweise der Winter. Er macht das Gehirn für Metamorphose "kompetent". 

Aber das alleine reicht noch nicht, die Metamorphose von Insekten zu verstehen. Denn Gehirn und Prothoraxdrüse sind in der Raupe ja immer vorhanden. Was aber hindert die Raupe, sich zu beliebigen Zeiten umzuwandeln, und kleinere Raupen und Falter zu erzeugen?

Eine weitere Drüse, bzw. deren zwei. Die Corpora allata liegen bei Insekten am Vorderende des großen Rückengefäßes. 1938 hat der französische Biologe J. J. Bounhiol nachgewiesen, daß diesen winzigen Corpora allata eine wichtige Rolle zukommt. Sie schütten dauernd einen Stoff ins Blut der Insekten aus, der (neben anderen Stoffwechselvorgängen) deren Zellen "jung" erhält. Die Gewebe des Insekts bleiben so im larvalen Zustand, haben also jede Metamorphose hemmende Funktion. Entfernt man sie, kann man jederzeit die Verwandlung des Tieres auslösen. 

So ist dafür gesorgt, daß viele Insekten über viele Jahre konserviert bleiben, solange etwa die äußeren Bedingungen nicht im Gleichklang mit ihren Anforderungen stehen. Der Maikäfer lebt bekanntlich vier Jahre larval, ehe er zu fliegen beginnt, und der Hirschkäfer gar fünf. Manche Libellen noch viel mehr Jahre. Von einer amerikanischen Zikade weiß man, daß sie siebzehn Jahre in diesem Larvenzustand verbleibt. Was den Indianern bekannt war, und eine besondere Bedeutung für sie hatte. Bei einer südlichen Rasse dieser Zikade dauert diese Phase dreizehn Jahre. Dann baut die Zikade einen bis fünfzehn Zentimeter hohen Turm mit einem Loch an der Spitze, wandelt sich zur Nymphe, verläßt den Bau, klettert an einem Baum hoch, und wird zum geflügelten Insekt. Als das sie dann einen ganzen Monat lebt. In diesem Monat paart sie sich, legt die Eier in die Erde, versorgt sie mit Nahrungsvorrat, und ... stirbt.

Morgen Teil 2) Vom Rückstieg zu Larve und Ei (2) Und: Seltsame Zeiten. Sogar in diesen Vorgängen könnte man Querverbindungen zum Corona-Geschehen erkennen.