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Sonntag, 15. Mai 2016

Gesellschaft der Usurpatoren

Das jede Kultur kennzeichnende, ja ausmachende, tragende Element einer institutionalisierten gesellschaftlichen Hierarchie führt durch die gezielte Beförderung des anthropologisch irrigen Mythos "Jeder kann alles werden" zu einer Aushöhlung auch von innen heraus. Denn nunmehr gelangen tatsächlich Unberufene unter Umgehung wahrer Legitimität in hohe Positionen, die den notwendigen Glauben an die prinzipielle Richtigkeit und Notwendigkeit eines solchen In- wie Zueinander in einem gesellschaftlichen Ganzen unterspült.

Damit zeigt sich tatsächlich, daß hohe und höchste Positionen von Menschen ausgefüllt werden, die ihren Aufgaben nicht gewachsen sind. Aber NICHT, weil sie dazu die nicht ausreichenden Fähigkeiten hätten, sondern weil ihre Amts- und Führungsinnehabe einer Usurpation zu verdanken ist. Damit leben wir in einer immer lückenloseren Situation der Revolutionsgarden, die die gesellschaftlichen Institutionen usurpiert haben. Wir leben mittlerweile in einer immer umfassenderen, lückenloseren post-revolutionären Phase. 

Der einzige Unterschied war die Taktik. In der nämlich der Umsturz, die Revolte nicht als einmaliges historisches Ereignis stattfand, sondern über die Zeit verteilt als nachhaltige Dauerwirkung installiert wurde. Es hat sich also nur das Revolutionskonzept verändert, nicht aber die Tatsache einer Revolution selbst. Unterstützt von einem grundsätzlichen Legitimationsproblem der Demokratie.

Das hat aber noch eine weitere folgenschwere Auswirkung, in der sich die Zerfallsprozesse aus sich heraus dynamisiert haben und spiralenförmig verstärken. Was bereits die Frage aufwirft, ob eine Reform überhaupt noch möglich ist, weil damit auch die Institutionen selbst, in ihren Beschickungs- und Erhaltungswegen, zur Stärkung des revolutionären Impulses selbst wurden.

Kennzeichen dieser Situation ist damit, daß wir es mit einer immer totaleren Laisisierung der Gesellschaften zu tun bekommen haben. Lasse sich der Leser den Gedanken an einem Beispiel aus dem Theaterbereich erklären: Der Unterschied zwischen einem Berufsschauspieler und dem Publikum liegt NICHT in einer Fähigkeit zum Schauspiel. Prinzipiell kann jeder Mensch schauspielen. 

Der Unterschied liegt darin, daß die Bühne von Laien okkupiert wurde, und zum einen nunmehr jedem Zuschauer über die Erfahrung der "Gleichheit" demonstrieren, daß auch wirlich JEDER auf die Bühne könnte, wenn er denn wollte, also jeder Unterschied ausgelöscht ist (weil er ja nicht in der Fähigkeit liegt). Zum anderen wird das Bühnengeschehen zur Laienveranstaltung.

Was unterscheidet Professionalität aber von Laientum? wie gesagt - es ist nicht eine irgendwie attestierbare "Fähigkeit". Der Wahn nach Zeugnissen möglichst hoher und möglichst vielfältiger Art ist ja nur ein Versuch der Legitimation der Usurpaton der Bühne, die jeder nur noch mit solchen Zertifikaten betreten darf, auch diese Restriktion wird ja immer lückenloser (Stichwort "objektive Postenbesetzung").

Der Unterschied zwischen Laientum und Professionalität liegt darin, daß der Profi NICHT so spielt, als gehöre er der Menge der Zuschauer an. Er geht ganz hinter der Maske auf, und nur die Maske ist es, die er zeigen will. Während der Laie nicht aufhört, sich mit seinem Spiel als Person des Publikums einen Platz zu erspielen. Er spielt um im oder unter dem Publikum etwas zu gelten. Nicht, weil er das Stück mit seinen Masken vervollkommnen will. Das wird vielmehr durch "Techniken'", "Fähigkeiten" zur Imitation eines vollwertigen, wirklich seienden Geschehens barbarisiert. Der Laie will in einem Leben NACH der Vorstellung etwas gelten. 

Der Profi will nur IN der Vorstellung das Stück vollkommen machen, und es ist ihm gleichgültig, wie er, nachdem er die Maske abgelegt hat, unter den Menschen zählt und wirkt. Er hat kein Wirken, sein Wirken IST die Maske, das Stuck, das Spiel auf der Bühne. Der Laie benützt die Bühne und das Stück und die Maske, um sich AUSZERHALB der Bühne, als Teil des Publikums, eine Rolle zu erspielen. Deshalb betrachtet er sich auch unter diesen Kriterien, und damit wird sein Spiel zur Bedienung von Konvention (die man natürlich - auch das Teil der Konvention - durch Überraschendes, "Aufbrechendes" und wie immer die Vokabel dafür aussehen.) Er sieht sich mit den Augen des Publikums, nicht mit denen der Gesetze und Werte des Stücks selbst.

Das ist es, was mit "Laisierung unserer Gesellschaften" gemeint ist. Und es zieht sich längst über alle Bereiche. Von der Politik über das Berufsleben bis hin zur Wissenschaft und Kunst. Mit allen Merkmalen, die Laienveranstaltungen auszeichnen. Allen voran die Bereitschaft, jederzeit aus dem Stück auszusteigen, es zu unterbrechen (weil die Anlässe das zu tun nicht mehr zwei Sphären kennen: die der Sachgerechtheit "im Stück", und die des Alltags), seine "Nicht-Wirklichkeit" (als Teil einer alle umfassenden normalen Realität) zu betonen, es durch Gesten und Verhaltensweisen des normalen Lebens und Publikums in diesem normalen Leben verankert zu halten, allen diese Normalität und Ununterschiedenheit zu versichern.

Das Publikum vergißt also gleichermaßen, daß es Publikum und nicht Bühnenakteur ist. Es kann Bühne und Auditorium nicht mehr unterscheiden. Also fordert es (aus seiner Sicht fast gerechtfertigt, zumindest verstehbar) Mitspracherecht an der Aufführung, an der ganzen Institution Theater, und vor allem am Stückverlauf. Ganz Kluge sprechen dann von "Mitbestimmung". Damit verliert sich auch - und das ist die schlimmste Folge - die Ernsthaftigkeit des Stückes selbst, das seine Früchte nicht mehr hervorbringt. 

Alle aber vergessen, daß Menschsein erst möglich und entfaltet wird, wenn es ein Theater als Institution gibt, das ein Leben das mehr ist als Vegetieren erst möglich macht, in dem Bühne und Zuschauerraum nicht nur getrennt, sondern als je eigene und einander zugeordnete Sphären bestehen. Man muß dazu überhaupt nicht auf Politik oder Kirche - deren Selbstsein überhaupt Liturgie, also Stückaufführung, Wandertheater sozusagen ist - zurückgreifen, sondern es ist die Grundsituation, in der jeder Mensch in jeder, buchstäblich jeder Situation steht. Die Welt IST ein Theater, in der jeder Mensch in zahllosen, ja unendlichen Stücken und Aufführungen seine Maske trägt und zu tragen. hat. 

Damit geht ein Verlust der Ernsthaftigkeit aller aufgeführten Stücke - also aller gesellschaftlichen Vorgänge - einher. Denn diese Revolution die wir da erlebten und in deren Folge wir nun stecken, ist nicht mehr auf einzelne Aufführungen beschränkt, sondern sie ist eine Revolution des Wesens des Lebendigen auf der Erde überhaupt. Darüber dürfen auch die immer panischeren Versuche, Ernsthaftigkeit auch im Banalen zu verankern (durch apokalyptische Drohungen, wie wir sie seit Jahrzehnten immer konzentrierter erleben), nicht hinwegtäuschen, die ihre Institutionalisierung eben nicht durch kulturelle Institutionalisierung zu erreichen suchen, sondern durch ein allen überzuwerfendes Fangnetz aus Drohungen und per Todesstrafe (das ist ja Apokalypse: an ihrem Ende steht das Ende von allem) verankerten Zwängen, die längst bis hin zur Sexualität und dem alleralltäglichsten - der Nahrungsaufnahme - reichen. Und die den Ernst, den nur ein Bühnenstück hat, ja der es überhaupt erst ausmacht, zu implementieren versuchen.

Wo aber der Mensch keine Vorstellungen mehr kennt, die einen Anfang und ein Ende haben - das ist etwa der berühmte "Tag" - und deshalb nicht mehr zwischen Welt (Tätigkeit, Rolle, Anspannung als Tragen von Form) und Nicht-Welt (Muße, Schlaf, Entspannung als Zurücksinken ins Formlose) scheiden kann, steht er in einer Situation der Ausweglosigkeit. Es gibt aus diesen Forderungen nach Ernsthaftigkeit kein Entkommen mehr, es ist bestenfalls über Rauschzustände und Drogen noch künstlich herbeizuführen, ist aber ein Einbruch in diese Ernsthaftigkeit, die mit Schuldgefühlen entläßt. Solch eine Menschheit kann sich deshalb nie mehr von Schuld befreien, es kennt keine schuldfreien Zonen mehr, wo die Möglichkeit schuldig zu werden eben kraft des Endes der Vorstellung verheißen und gegeben ist. Es ist eine Gesellschaft ohne Schlaf. 

Wenn es stimmt, was man vom Tod von Prince sagt, daß er zum einen schwer drogensüchtig, zum anderen 7 Tage vor seinem Tod nicht mehr geschlafen hat, wäre es eine gar nicht besser zu erfindende Symbolisierung der Gegenwart, in der Prince sein Künstlerleben (und er war gewiß ein Künstler) nicht mehr begrenzen konnte und in gewisser Weise zum tragischen Höhepunkt einer gigantischen Zeitaussage trieb, die in sich selbst diese Nicht-Unterscheidung, diese Dauerrevolution auf den Gipfelpunkt führte. 

Denn ein Künstler weiß um diese Tragik der Welt, er muß sie ausleiden, er wird erst zu sich selbst wenn er diese Zurückweisung als Teil des Publikums akzeptieren lernt. Sein Leiden ist die Unmöglichkeit, zum Publikum zu werden. Ihm fehlt die Möglichkeit, außerhalb der Bühne (und nur auf ihr und in ihr IST er) ETWAS zu sein, Teil des Publikums zu sein. Außerhalb der Bühne ist er buchstäblich NICHTS. Ihm bleibt nur das Stück.

Aber sieh da - alles menschliche Wirken ist nicht nur Bühne. Es ist im letzten und in seinen vollkommensten Zuständen tatsächlich eine Kunst. Sie kennt nur nicht ausschließlich ein "Theater" aus Mauern, Brettern und Vorhängen, das an der Wiener Ringstraße steht, sondern ihm ist alle Welt ein Theater.

Aber Leben gibt es freilich auch für die Mehrheit der Menschen - Publikum wie Akteur, aber in ständigem Wechsel - nur im Begreifen dieser Dichotomie zwischen Nichts und Bühne. Beide zusammen, freilich, sind das Insgesamt der Schöpfung, aber die Nacht ist nur die Höhle, aus der der Mensch wieder an den Tag des Lebens hervortritt und somit Welt konstituiert wie trägt und zu immer neuer, immer vollkommener Blüte bringt, die im Sterben zur Frucht wird, die die Welt im anderen nährt.

Wir jedoch befinden uns in der Situation von Revolutionären, die verzweifelt beratschlagen, wie das, was sie grundsätzlich zerstört haben - die Ordnung, die Institutionalisierungen - nun neu zu erfinden, neu aufzurichten haben. Um wieder Leben aus den Trümmern zu evozieren. In dem das Nichts nicht mehr abschütteln könnende Halbleichen herumgeistern und verzweifelt nach Leben und Welt suchen indem sie nach Gesetzen und Moralia schreien, die als geistige-psychische (weil nur noch im Einzelnen und aktiv bestehen könnende) Konstrukte wenigstens notdürftig eine Welt simulieren können. Viele meinen damit, die Revolution rückgängig machen zu können, indem man eine nächste Revolution draufsetzt.

Weil diese Konstrukte, diese Totalitarismen den Menschen zur Verhaltensmaschine machen, welche Welt künstlich herstellt und funktional tragen soll, und damit die Folgen der revolutionären Zerstörung wenigstens verdeckt. Nicht anders dachten die ersten Revolutionäre, die eine Welt vorfanden, die nicht mehr wachsam, die ihrer selbst nicht mehr gewiß war.

Darin wurzelt der Wohlstands- und Konsumwahn der Gegenwart - Fruchtgenießung ist nämlich das Merkmal der Blüte, und das Sein von etwas "anderem" ist erst an ihrer Wirkung erkennbar. Also können künstliche Früchte auch ein Sein dahinter vortäuschen. Eine solche Welt MUSZ zum Totalitarismus werden, und deshalb sind die heute so zahlreichen Weltrettungsphantasien immer Phantasien der totalen Weltbeherrschung, die bis in den letzten Winkel reichen muß.

Was alles verdecken soll, daß aus Laien keine Profis mehr werden, nur weil sie deren Merkmale imitieren, und die nach Gestalt besetzt werden, nicht nach Fähigkeit, und die in einem Stück spielen, das ein nach ästhetischen Gesetzen geschaffenes Ganzes ist. 

Gibt es aber etwas Professionelleres als das Jüngste Gericht?





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