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Samstag, 10. Juli 2010

Markt der Kuriositäten

Die Reliquienverehrung zum Ausgang des Mittelalters, im 16. Jahrhundert, war in eine regelrechte Sucht nach Handfestem ausgeartet. Die Kreuzzüge hatten noch dazu ein unübersehbares Feld an "Originalfundorten und -stücken" aufgetan, und ein schwunghafter Handel verband die Mischung aus einerseits verstehbarer Sehnsucht nach realer Nähe Gottes und des Heiligen, sowie sehr Problematischem, wie Gier, Geltungssucht, Auserwähltheitswahn, mit solider Geschäftspraktik.

Da gab es neben den obligaten Splittern vom Kreuz Christi Weihrauch vom Opfer der Heiligen Drei Könige, Stroh von der Krippe in Bethlehem, Zweige vom Baum, unter dem die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gerastet hatte, Gewandfetzen vom Rock um den die Kriegsknechte an der Richtstätte gewürfelt hatten, Milch von der Gottesmutter, Steine die den heiligen Stephanus getroffen hatten, Stücke vom Berge, auf dem Jesus gefastet hatte, von dem Ort, wo er über Jerusalem geweint hatte, vom Abendmahlsraum, vom Stein, wo der Herr Blut geschwitzt hatte, sogar vom himmlischen Manna und der Erde aus der Adam geschaffen worden, hatte sich etwas erhalten.

In den Verzeichnissen der Klöster und Pfarren finden sich Teile vom Dornbusch Moses, vom Stabe Aarons, Zähne aller möglichen Heiligen, oder Knöchelchen von den tausend Märtyrern und den unschuldig gemordeten Kindlein. Das Wittenberger Heiltum enthielt gar Ruß aus dem Feuerofen der drei Jünglinge. Im Schleswigschen Augustinerkloster Bordesholm zeigte man von der Heiligsten Jungfrau die gesamte Nähausrüstung einer Dame von Rang, auch etwas von ihrem Haargeflecht und  sogar ein wenig Ohrenschmalz, wie es denn überhaupt diesem Gebiet an Geschmacksverirrungen nicht gerade fehlte.

Feststellungen von Unechtheiten, die hie und da kirchlicherseits vorgenommen wurden, gingen in dem Riesenmarkt unter. Aber die Inbrunst war zweifellos echt, und schrankenlos. Reliquienfeste, -einsetzungen waren riesige Volksfeste, in denen die Menschen der damaligen Zeit nicht selten in fast hysterische Gefühlsausbrüche verfielen, wenn der Reliquienschrein in aufwendigen Prozessionen herumgetragen wurde - in dem vielleicht das Kleid der Gottesmutter, oder die Windeln des Herrn Jesu, das blutige Tuch, auf dem das Haupt Johannes des Täufers gelegen, oder das Tuch, das Jesus am Kreuz um seine Lenden getragen hatte, lag.

Aus den Gerichtsakten des wegen Unterschleifung (=Unterschlagung) hingerichteten Nürnberger Ratsherren Nikolaus Muffel geht hervor, daß dieser privat für jeden Tag des Jahres eine Reliquie in seinem Privatschrein hatte. Nichts aber gegen den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandburg - der hatte sich aus seinem Reliquienbesitz einen Ablaß (= Nachlaß aller Sündenstrafen) für mehrere Millionen Jahre "erworben". Und wollte damit nur den Kurfürsten Friedrich von Sachsen überbieten. Denn dessen Reliquiensammlung war sogar in einem landesweit erwerbbaren, gedruckten Reliquienverzeichnis nachzulesen, und enthielt zu dem Zeitpunkt über 5000 Stück Heiligenreste, in weiteren zehn Jahren stieg die Sammlung des (reichen) Fürsten auf zumindest zwanzigtausend Stück.

Willy Andreas meint, daß gerade an der Verlagerung der Reliquienverehrung (von Knochen oder Marterwerkzeugen weg) auf "Gewänder", die so kennzeichnend für diese Zeit war, sich die Verstofflichung und Konkretisierung des Verehrungswürdigen, in einem hochdifferenzierten, aber schon überreifen Stadium der Kultur, ablesen läßt.


*100710*