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Freitag, 16. Juli 2010

Zwei Willen im Streit

Tugendleben, Askese, Heiligung ist für Schopenhauer dezidiert ein "ständiger Kampf gegen den Willen zum Leben." Und er irrt deshalb genauso dezidiert, wenn er den christlichen Heiligen mit dem indischen Veden-Heiligen gleichsetzt. So sehr sich manche ihrer Aussagen gleichen, oft aber aus gefährlicher Äquivokation - dieselben Worte, aber ganz anderer Hintergrund, ganz anderer Deutungshorizont.

"Zwei Willen" leben im Menschen, und sein Lebensvollzug IST nicht das Leben (auch wenn es dazu scheinbar, in der Täuschung, "werden" kann), sondern ist FOLGE, noch mehr Darstellung des Lebens. Es ist nicht alles "ein" Wille zum Leben, sondern der Wille zum Leben ist der Wille zum Insgesamt eines Geliebten. Der in sich aber, wie jeder Mensch, Partialwillen erfährt, in denen sich solche Teilwillen "emanzipieren" und desintegrieren wollen.

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Der Schopenhauersche Ansatz führt also (in der Praxis auf jeden Fall) genau zum Gegenteil dessen, was als gewünscht zu erreichen er vorgibt: während er sagt, daß das Leben zur Maja, zur Täuschung, zum Schein wird, und männliche Entsagung und Heiligung deshalb in der Bekämpfung dieses (Scheins im) Willen zum Leben besteht - verbleibt ihm für das Individuum NUR das diesseitige Leben (denn im Tod, zumindest im Tod des Heiligen, der alles abgetötet hat, löst sich das Individuum ja auf) und damit wertet sich dieses Diesseitige zum Leben überhaupt auf. Selbst wenn er das verbal bestreitet - es ist nur das Bestreiten dessen, was offensichtlich die Folge ist, um sich von dieser Konsequenz freizusprechen.

Und vielleicht liegt der Grund dafür - in dieser gedanklichen Konsequenz, die er selbst ausspricht: die Erlösung vom Leiden, vom Maja, dem Schein, erfolgt dann und dort, wo der allgemeine Wille des Lebens im Einzelnen durch die Erkenntnis, daß alles Schein IST, des Lebens also gar nicht wert, zur Ruhe kommt. Damit ist der letzte Schluß Schopenhauers - völlige Sinnlosigkeit. Was immer er als "anzuempfehlende" Haltungen und Moral darstellt, kann er nicht mehr wirklich begründen, aus der Welt selbst geht keine Moral mehr hervor, bestenfalls eine Art Lebensrezept. Entsprechend sinkt ja auch seine Moral (über die er bekannt wurde) zu einer Eristik, einem Kampf um die Überlegenheit, ums Rechtbehalten, um seinen Willen, der in jeder Form ein Ausläufer des generellen Willens zum Leben ist (womit ja "alles gut" ist, solange es nur Wille ist) durchzusetzen.

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Ob er es will oder nicht, und er schien es ohnehin zu wollen: Schopenhauer reiht sich fast lückenlos in eine Reihe mit Meister Eckhart ein. Versucht wie dieser die Welt immanent zu beweisen und zu erklären, und landet in denselben Fehlschlüssen - der Auflösung des Individuums in der Selbsterlösung, dem Ziel der Selbstauslöschung.

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Der Nürnberger Korrespondent bringt am 29. Juli 1813 folgende Nachricht: "Von Bern meldet man, daß bei Thurnen, in einem dichten Walde, ein Hüttchen aufgefunden wurde und darin ein schon seit ungefähr einem Monat in Verwesung liegender männlicher Leichnam, in Kleidern, welche wenig Aufschluß über den Stand ihres Besitzers geben konnten. Zwei sehr feine Hemden lagen dabei. Das wichtigste Stück war eine Bibel, mit eingehefteten weißen Blättern, die zum Theil vom Hause (die Heimath aber wird nicht genannt) dann sagt er: Er sei vom Geiste Gottes in eine Wüste getrieben worden, zu beten und zu fasten. Er habe auf seiner Herreise schon sieben Tage gefastet, dann habe er wieder gegessen. Hierauf habe er bei seiner Ansiedelung schon wieder zu fasten angefangen, und zwar so viele Tage. Nun wird jeder Tag mit einem Strich bezeichnet, und es finden sich deren fünf, nach deren Verlauf der Pilger vermuthlich gestorben ist."

Schopenhauer bringt dies Beispiel - als ... "vermuthlich" gutzuheißendes, ja bewundernswertes Beispiel dessen, was eigentlich zu tun sei.


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Sein Hauptwerk schließt mit dem Wort dessen, auf das alles bei ihm hinausläuft: nichts.


*160710*