aus 2010) Gerhard Ritter, ein protestantischer Pastor und tief (und früh) im innerdeutschen Widerstand gegen Hitler engagiert, schreibt in seinem großartigen Buch über "Goerdeler und deutsche Widerstandsbewegung" etwas Interessantes:
Fast entschuldigt er sich nämlich dafür, daß der protestantische Widerstand sich erst nach einigem Besinnen zusammenfand. Der Protestantismus sei der Katholischen Kirche - die sich viel rascher, geschlossener, und viel fundamentaler gegen Hitler gewandt hatte - gegenüber in mehrfachem Nachteil gewesen. Zu allererst nämlich hatte sich das Beobachtete, die sichtbare Unmöglichkeit nationalsozialistischer Auswüchse, in der protestantischen Theologie nicht "wiedergefunden."
"Die evangelischen Theologen mußten ihren Kampf ohne solchen Rückhalt führen [wie ihn die Katholiken alleine in ihrem "Naturrecht" hatten, das auch die weltlichen Ordnungen mit einbegriff.] Die alte lutherische Lehre von den zwei Reichen, dem Reich Gottes und der Welt, und von der christlichen Oberkeit bedurfte einer wesentlichen Fortbildung, Erneuerung und Vertiefung. Nicht ohne innere Nöte, aber in einer höchst fruchtbaren, heute noch immer fortdauernden, geistigen Anstrengung ist diese neue Grundlage (sic!) praktischen Kämpfertums gegen den Totalstaat erarbeitet, schließlich sogar auf lutherischem Boden eine Lehre vom Widerstandsrecht, ja der Widerstandspflicht des Christen gegen gottlose Tyrannei geschaffen worden.
Der Protestantismus mußte ja erst eine "Begrenzung" der Staatsgewalt verdauen. Nach Luther war ja der weltliche Herrscher auch jener nach Gottes Schöpfungsordnung.
Und dann kam noch die Schwierigkeit der Kirchenleitungen (denen das Volk innerlich, nach anfänglichen erstaunlichen Bekenntniserfolgen, die Hitler nachweislich zu Vorsicht anhielten, weggebrochen war, Anm.) diese "neuen Erkenntnisse" an das Volk zu vermitteln - denn, so Ritter, nur um die Kerntruppe der theologischen Orthodoxie sammelte sich ein wirklich entschlossener Widerstand; nur hier gab es ja auch mehr als bloße Gruppen von Kirchenbesuchern, nämlich wirkliche Gemeinden.Erst also mußte der Glaube, die Theorie, mit dem Herzen, mit dem Offensichtlichen, wie es bereits 1934 in der "bekennenden Kirche" ausgesprochen war, akkordiert werden. Udn die sich u. a. in intuitivem Widerstand gegen die Überhäufung mit Treueeiden - von Kindergarten an - äußerte ... Erst dann war es möglich, daß auch Berufstheologen von Rang (darunter Bonhoeffer) sich in die Front politischen Widerstands guten Gewissens einreihen konnten, um an den Plänen des bürgerlichen Widerstands mitarbeiten zu können. Man wollte ja nicht auch einfach eine "Zufluchtsstätte" politisch Unzufriedener werden. Was übrigens auch Hitler am meisten fürchtete.
Um sich dann endgültig im November 1938, angesichts der Judenverfolgung, zu seiner beeindruckenden Entschlossenheit zu formieren.
Diese Erfahrung, übrigens, hat sich sehr tief auf die weitere Entwicklung der gesamten protestantischen Theologie in ihrer Einschätzung des göttlichen Auftrags zur Mitverantwortlichkeit und Weltwirkung ausgewirkt.
Das prinzipiellere Problem des Katholizismus hat Hitler sehr raffiniert zu Anfang seiner Regierungszeit beseitigt: indem er überraschenderweise in einem neuen Konkordat der Kirche sämtliche Besitztümer und Eigenständigkeiten in ihrem Bereich zusprach, während er gleichzeitig das kirchliche Zugeständnis erhielt, sich aus der Politik völlig fernzuhalten.
Deshalb hat auch der katholische Widerstand seine Zeit gebraucht, um angesichts der immer offensichtlicheren Unrechtmäßigkeiten des Regimes zum immer offeneren Protest zu finden. Denn so mußte jeder Widerstand durch die Pforte der Frage, ob er die Lage der Katholiken nicht durch einen rechtlichen Verstoß gegen das Konkordat verschlimmere, und der Kirche auch noch jede Rechtsbasis nahm.
Dennoch fanden sich immer mehr Mahner und Mahnungen, und niemals war dann der Zudrang zum Priesterberuf stärker als damals! Der offene Kampf aber brach aus, als die Encyclica des Papstes Pius XII. im März 1937 erschient, "Mit Brennender Sorge" - auf deutsch! Sie, so Ritter, faßte nun alle Beschwerden gegen das völkische Neuheidentum zusammen und wirkte wie ein offener Kampfaufruf. Die Staatspolizei versuchte erfolgreich, zumindest die Verbreitung in Druckwerken zu verhindern, gegen die Kanzeln konnte sie aber nicht wirkungsvoll genug vorgehen. Also griff die Partei zu anderen Mitteln, und es kam zu einer langen Reihe von Prozessen gegen Klöster und Klostermitglieder wegen angeblicher Devisen- und Sittlichkeitsvergehen. Während bald "militärische Notwendigkeiten" zum Hebel wurden, um auch auf die Personalstände zuzugreifen, Enteignungen durchzuführen, und Klerikernachwuchs zu verhindern.
Spätestens in ihren Hirtenbriefen nach 1941 trat die Katholische Kirche - und nun noch weit vehementer als die Protestanten - deutlich auf, in dem sie unter Bezug auf das christliche Naturrecht auf die Verpflichtung hinwies, sich nicht nur für religiöse und kirchliche Rechte einzusetzen, sondern auch für menschliche Rechte schlechthin.
***