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Mittwoch, 2. Januar 2013

Was ist wirklich?

Warum brach der Dow Jones-Index am 6. Mai 2010 ohne ersichtlichen politischen oder ökonomischen Grund um 9 % ein, und wäre noch weiter eingebrochen, wäre der Börsenhandel nicht generell ausgesetzt worden? Warum verloren damals Unternehmen ohne jede Veranlassung 99 % ihres Wertes, binnen Sekunden? Warum brach am 28. November 2012 der Schwedische Börsenindex zusammen, konnte nur aufgefangen werden, indem der Börsenhandel für einige Stunden ausgesetzt wurden? Warum fiel kurz darauf der Goldpreis um 30 Dollar, binnen Sekunden?

Kettenreaktionen der Computerprogramme untereinander, die den Börsenhandel weltweit zunehmend beherrschen, durchführen, ohne daß noch eine Menschenhand dreinfunkt. Nur bei solchen Lawinenabgängen reagiert man, notgedrungen. Millisekunden entscheiden über Milliardengewinne oder -verluste. Die realen Werte, schreibt die Welt-Kommentator Frank Stocker, sind völlig gleichgültig, es geht all diesen Programmen um Gewinnoptimierungen. Darauf sind sie spezialisiert, jedes nutzt eine bestimmte Spalte, in die es sich sofort ergießt, sollte sie sich am globalen Börsengeschehen auftun. Hier verkauft, dort gekauft, dort abgestoßen, hier Gewinne realisiert, dort Verluste begrenzt.  Alles passiert vollautomatisch, die Zeiten, wo jemand mit scharfen Augen Bildschirme beobachtete und Kursangebote durch den Raum rief, sind längst vorbei. Die heutigen Börsensäle sind menschenleer. Kolonnen von Bildschirmen starren sich gegenseitig an, Kabel fetzen Computerbefehle in Millisekunden durch, wer um eine schneller ist hat unter Umständen einen milliardenschweren Vorteil.

Die Wenn-Dann/If-then Logik beherrscht zunehmend ausschließlich das Finanzgeschehen der Welt. Und in dieser Logik, die jeweilige spezifische Interessen umsetzen soll, darauf zugeschneidert ist, kommt es immer wieder zu katastrophenartigen Chaoszuständen. Nach denen sich die Verantwortlichen wieder an den Tisch setzen, und Geschäfte rückabwickeln. Wirklich stoppen, eingreifen, kann niemand mehr, die Entwicklung ist weltweit zu fortgeschritten, zu abhängig von solchen Systemen. Die miteinander ein großes kritisches System bilden.

Was heißt: Bis zu dem Tag, an dem die - noch - lokalen Lawinenabgänge schlagartig das Geschehen der ganzen Welt umfassen. Weil die Computerentscheidungen von Stockholm einen Kollaps in Bangkok auslösen, woraufhin die Börse von Rio de Janeiro die Wallstreet kippen läßt, Sidney den Handel aussetzt, und Paris panikartig mit einem Kurssturz reagiert, der Frankfurt und London zusammenbrechen läßt. Nichts geht mehr. Niemand weiß mehr, was wieviel wert ist, ob morgen dutzende Großbanken insolvent sind, weil ihre Aktiven wertlos sind, oder Weltkonzerne ihre Löhne nicht mehr auszahlen können, weil ihre Banken die Kreditlinien sperren, weil die Bewertungssysteme plötzlich auf CCC fallen. Was einen Dominoeffekt auslöst, der tausende weitere Unternehmen mitreißt, und in deren Gefolge zehntausende, bald hunderttausende, bald so gut wie alle, während der Goldpreis ins Bodenlose fällt aufgrund hunderttausender Verkaufsaufträge, mit denen Hunderttausende ihr Geld zu retten versuchen. 

Im nachfolgenden Kampf um Rückabwicklungen läßt sich kein Anfangs-, kein "unwirklicher" Punkt mehr feststellen, der Spaß geht jetzt erst richtig los. Als nach einem Jahr die Regierungen der Welt immer noch keinen Konsens gefunden haben, beginnt Japan dasselbe zu machen, was Indien und die Ukraine längst gemacht haben: ausländisches Eigentum zu konfiszieren, um die eigene Volkswirtschaft zu schützen, die ohnehin bereits außer Rand und Band ist, um Renten und Beamtengehälter weiter auszahlen zu können, trotz der 78 Staatsbankrotte, die global in der Zwischenzeit eingetreten sind. Der Druckkochtopf Weltfinanzsystem geht über. Und was er ergießt, ist plötzlich sehr real.

Weil niemand mehr weiß, was "wirklich" ist. In einer Welt der Logik, die an der Wirklichkeit kein Maß mehr hat. Vielleicht ist ja doch überhaupt nichts wirklich? Vielleicht gibt es ja gar keine Vernunft?





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