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Samstag, 5. Januar 2013

Rasanter Umbau einer Gesellschaft

Die Veränderungen, die China durchgeht, sind gewaltig: China hat in 30 Jahren einen Sprung in die Moderne vollzogen, für den Europa 100 Jahre brauchte. Und sie zeigen heute ein Land, das sein ureigenestes Gesicht verliert. Denn Konsum zählt für die jungen Chinesen alles. Waren 1949 noch 5 % der Bevölkerung in Großstädten wohnhaft, so sind es heute über 50 %, und die Verstädterung geht in enormem Tempo weiter. Erstes Opfer ist die eigene Kultur. Das schreibt die Welt in einem Interview mit dem Photographen Matthias Messmer, der China lange und immer wieder bereist hat.

Was ist da verloren gegangen, was geht gerade verloren?

Messmer: Es geht natürlich zuerst einmal viel an alter Bausubstanz verloren. Das ist das, was man auf den ersten Blick sieht. Gleichzeitig gibt es einen langsamen Verlust von Traditionen und Brauchtümern. Das Fernsehen hat längst Einzug in die Bauernstuben gehalten; die Wandertruppen, die Theaterspiele im Freien aufführen, werden weniger, weil niemand mehr Puppenspieler werden will. Viele Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben kein Gespür mehr für das Ästhetische in der chinesischen Kultur.

Mit einem enormen Sinndefizit bei den Menschen - bei denen, die in die Städte ziehen, bei denen, die im Dorf zurückbleiben. Probleme tauchen auf, die bislang unbekannt blieben, weil die dörflichen Infrastrukturen sich auflösen, die kleinen Orte als Wirtschaftseinheiten nicht mehr bestehen. Alte können sich dadurch kaum noch versorgen, die medizinische Versorgung ist oft nicht mehr vorhanden. Früher gab es immer etwas Reis oder Nudeln, weil generationenübergreifend angebaut wurde. Heute sind viele auf das Geld der Kinder angewiesen, das diese aus den Städten schicken sollen.*

Der Sog in die Städte hat viele Familien zerrissen, ruft Neid hervor und schafft Probleme, an die heute vielleicht noch keiner denkt. Viele Migrantenkinder bräuchten eigentlich psychologische Betreuung – sie wachsen ohne Eltern auf und verstehen nicht, warum. Das sind Millionen von Kindern.

Auch viele Frauen sind auf den Dörfern zurückgeblieben. Das schafft unweigerlich Spannungen. Die Selbstmordrate in den Dörfern ist dreimal höher als in den Städten. Ich habe immer wieder gesehen, dass die kommunistische Ideologie und der Konsum das geistige Vakuum nicht füllen können. Deshalb haben die Kirchen auch wieder mehr Zulauf, vor allem die christlichen. Das sieht man in vielen Dörfern in den Häusern – einen Jesus am Kreuz, daneben ein altes Porträt von Mao, eine Marienfigur, alles zusammen.

Die Dörfer entvölkern sich ungebremst, und mit ihnen löst sich die Kultur auf. Mit Fernseher und Handy als Motoren der Landflucht. Als Gegenprogramm versucht die Regierung, Tourismus in die Dörfer zu bringen, baut Autobahnen. Bestehen Autobahnen, kommen die Touristenmassen. Die alten Städte und Dörfer werden zu Museen, mit einem McDonalds-Stützpunkt.
 
 
 
 
*In China gibt es keine allgemeine Rentenversicherung. Das heißt, daß jeder für seine Altersversorgung selbst aufkommen muß. Durch Ersparnisse und Rücklagen, und/oder durch die Nachkommen.




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