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Mittwoch, 16. Januar 2013

In der Charakteristik der Zeit

Sie sind der Lektüre wert - zwei Artikel, einer in Die Welt, der andere im Tagesspiegel erschienen. Und sie sind in ihrer Dringlichkeit kaum zu utnerschätzen, denn sei legen den Finger auf eine schwärende Wunde, die dabei ist, unseren gesellschaftlichen Organismus - und damit das Leben der Einzelnen - zu vergiften. Ja, die ihn längst vergiftet haben. Mit "Freiheit" ist das nur unzulänglich beschrieben, denn dieses Wort wird so vielfältig eingesetzt und mißbraucht, daß es zur Präzision nicht ausreicht.

Es geht um das Paradigma der Funktionalität, das unser gesamtes Wertegefühl durchzieht und geprägt hat. Ja, das zum Lebenswert an sich geworden ist. Und das seine Wurzel in das Grunderleben des Menschen hat, als Erleben des "Können-könnens", das eigentliche Paragidma der Freiheit. Die Entwicklung hin zu dieser Diktatur der Funktion, repräsentiert in der Funktionärselite, hat eine lange Zivilisationsgeschichte. Sie war vorhersehbar, vorhergesagt, und ist in ihren weiteren Konsequenzen klar absehbar. Das "Gute" ist das, was funktioniert. 

Was im Sinne rationalistischer Paradigmen funktioniert, ist an sich das "Gute" geworden. Insofern spielt der öffentliche Diskurs eine entscheidende Rolle dabei. Wer diesem "Guten" ablehnend gegenübersteht, wird nicht einfach als Andersdenkender akzeptiert, sondern alle Hebel werden in Bewegung gesetzt, um ihn auszugrenzen, ja zu isolieren und unschädlich zu machen. Nirgendwo ist der öffentliche Diskurs so aggressiv wie in Deutschland und Österreich (hier sogar noch schärfer, weil das Land ob seiner Kleinheit kontrollierbarer ist, und keine Internationalisierung die Gesetze des "Eigenen" ganz aufbrechen und wirkungslos machen kann: der Mensch beginnt im unmittelbaren Umfeld). Wer den neuen Religionen nicht beitritt, wird systematisch und längst in das persönliche Verhalten pädagogisch inhäriert exterminiert, wenn er nicht zu "überzeugen" ist.

Erst recht haben sich diese Verhaltensweisen bereits in nahezu allen Kirchen und Religionsgemeinschaften etabliert. Hier sogar noch schärfer, und zwar gereade dort, wo das "Richtige" und damit "Gute" durch Dogmen einen scheinbar unhintergehbaren Rahmen hat. Dogmatische Inhalte werden nominalisiert, auf ihren Buchstabengehalt, der reinen Sprachlogik folgend, eingedampft, und damit dem Individuum jeder Rahmen subjektiver Meinungsbildung genommen. 

Das funktioniert nur über den Rahmen einer Umwandlung des "Geglaubten"zum "Bekenntnis". Übersieht dabei aber, daß gerade im Religiösen der Mut zur Auseinandersetzung mit dem wirklich für wahr Gehaltenen nur auf der Ebene des Subjekts stattfinden kann. Diese Auseinandersetzung wird schon weithin und grundsätzlich diskriminiert. Das eigene Denken wird abgeschafft, und gemieden wie das Weihwasser vom Teufel. Denn es enthält Risken, die unkontrollierbar sein könnten. 

Damit nimmt man den Religionen aber ihre gesellschaftliche Relevanz, macht sie nur zu weiteren Mitspielern im Kanon der Moralismen, die genau darin aber nur den Zeitgeist mitvollziehen. Damit wird sogar dem Grundsatz aller Erkenntnis - Gehorsam - ein neuer Sinn beigelegt. Er wird zum Verbot, aus sich heraus die Wahrheit zu suchen, der eigentliche religiöse Akt. Religion wird a-religiös. 

Etwas, das sich im Rahmen der katholischen Kirche in ungeheurem Ausmaß und deshalb am deutlichsten abspielt. Die in einer Zeit, wo Religiosität verzweifelt nach Atem ringt und sich ERsatzwege sucht, verliert - ein Paradox. Aber hier zeigt sich, was der eigentliche Grund für den Verlust der Mitglieder ist, explizit oder implizit durch innere Emigration. Denn die Kirche verliert schon lange genau diese Menschen, die noch am Boden des "gesunden Menschenverstandes" stehen. Und sie erkennt auch nicht, daß der Glaube, die Offenbarung, genau dort ihre Chancen hätte. 

Weshalb auch die Zielrichtung ihrer "Missionierung" (als nie endende, aber primär aber immanente Wirkung des Gläubigen) grotesk verfehlt wird. Weil sie ihre eigene Mitte nicht mehr findet, verflüchtigt sich ihre missionarische (oder: ausstrahlende) Tätigkeit in die beiden Polen "völlige Weltimmanenz" (z. B. in der Befreiungstheologie) und "Virtualität" (v. a. in den Erneuerungsbewegungen am deutlichsten erkennbar) ab, jeweils auf subtile Weise interagierend (wie "Rockmessen" symbolisieren). Die wahre katholische Mitte, das eigentliche Katholische als Offenheit für die Wirklichkeit, ist der eigentliche Verlierer, und ihr gehören die "Massen" an, die seit Jahrzehnten verloren wurden, und kaum mehr wiederzugewinnen sind. Sodaß die alles tragende Wirklichkeit eines Menschen - die Lebensweise, als Quelle der Haltungen, und damit der Moral wie der Weltsicht - zur Nebensächlichkeit verkommt, subtil verborgen durch Konzentration auf vereinzelte Taten (wozu selbst so dramatische Dinge wie "Abtreibung" gehören bzw. werden, als "Ausweis" der Rechtgläubigkeit) oder Lebensweisen (eine prinzipiell eigene Lebensweise kommt gar nicht mehr zur Ausbildung), das "Gute" wird ihm übergestülpt.

Zurück zu den Artikeln:

Die Welt nimmt das immer aggressivere Verbot gegen das Rauchen zum Anlaß, über den Fortschritt der moralischen Diktatur nachzudenken, die dem Einzelnen vorschreibt, was er zu tun und zu lassen hat - weil er funktionsfähig bleiben muß. Rauchen wird zum Ausweis der moralisch Schwachen, der Haltlosen, der Minderwertigen. Und diese Haltung sind nicht einfach nur unerwünscht. Sie sollen per Zwang und Druck unterbunden werden.*Rauchen wird zum "Unterschichtenproblem", und Unterschichten sind überhaupt unerwünscht. Die groteske "Armutsbekämpfung" der Gegenwart hängt genau mit dieser Zeitsymptomatik zusammen.

Im Tagesspiegel wird das Thema von Alexander Gauland breiter angelegt. Er nimmt mit Entsetzen den Mechanismus zum Inhalt, in dem jeder Andersdenkende ins moralische Aus gedrängt wird. Wer nicht politisch erwünscht denkt, wird zum "bösen Menschen" erklärt, direkt oder indirekt. Und diese Mechanismen funktionieren bereits auf erschreckende Weise.





*Übrigens: Genau damit schafft sich das Problem von Abhängigkeiten selbst. Die entsprechende Tätigkeit ist nicht einfach mehr sie selbst, sondern sie ist Bestandteil einer entwirklichten Abstraktion - sie wird genau so zur Charakterneurose. Mit der erst das eigentliche Suchtproblem entsteht, indem man die "Abhängigkeit" apriori zur Wirklichkeit macht. Das Rauchen selbst wird dämonisiert, anstatt das Kulturganze zu sehen, das Massenerscheinungen bewirkt, und sich seine Symtome selbst schafft. Dabei ist man medizinisch mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob die sprichwärtliche "Raucherlunge" überhaupt ... vom Rauchen kommt, zumindest erzeugt nicht einfach oder nur das Rauchen eine solche Lungenkonstitution, soviel scheint bereits festzustehen.





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