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Freitag, 11. Januar 2013

Präsenz des Wortes

Der Unterschied zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort ist weit höher, als er nominalen, abstrakten Inhalten entsprechen könnte, schreibt Walter Ong SJ in "The Presence of the Wort". Anthropologisch eindeutig ist, daß das gesprochene Wort eine Präsenz hat, die gar keinen Vergleich mit Geschriebenem möglich macht. Das ja nur auf Gesprochenes referiert.

Verlagert auf die visuelle Ebene, wird, analog zum Aufbau des Sehvorgangs, dessen Inhalte in ganz anderem Maß als Gehörtes von der Interpretation abhängen, das Gelesene inhaltlich vom Leser interpretiert. Er überschreitet also mit Lektüre seinen eigenen Horizont kaum bis gar nicht. Das Gesprochene trägt aber die Eigenschaften der Person des Sprechers mit sich, die Situation, den Raum. Es schafft damit real Gegenwart, weil es über die Zeit hinaushebt, auch hier: anders als das Geschriebene. Ohne Raum und Zeit aber kann sakrale Begegnung gar nicht stattfinden, zeigt Mircea Eliade. Denn das Göttliche steht über Raum und Zeit, bewohnt sie. 

Geschriebenes unterliegt Raum und Zeit, bezieht sich auf Vergangenes. Es macht das Wort zum Objekt, ist vergleichbar, ja muß verglichen werden. Und sie haben einen deutlich geringeren Realitätsgrad als Gesprochenes. Schrift hat lediglich höhere Dauer in der Zeit, was sie sogar mitbegründet hat - als Zeugnis, als Erinnerungshilfe.

Ein Hörvorgang ergreift den Hörer, wandelt ihn. Er vermittelt nicht nur Gegenwart und Aktualität oder Dringlichkeit, sondern in ihm wird damit ein Inhalt vermittelt, den die Schrift gar nicht fassen kann. Theoretisch würde ein Leser ohne Rückgriff auf bereits Gehörtes, ohne (stillen) inneren Sprechvorgang beim Lesen, gar nichts verstehen von dem, was er an Zeichen vor sich sieht.

Der Psychologe J. C. Carothers schreibt in "Culture, Psychiatry and the Written Word", daß deshalb nur wenige Menschen Kommunikationsprobleme haben, wenn sie sich im Sprechen ausdrücken. Sie werden relativ leicht verstanden. Anders aber im Schreiben. Die Schrift transportiert nur wenig vom Verfasser, und bringt deutlich weniger Verständnis, weil der Leser immer eher nach seinen eigenen Vorurteilen und auf der Grundlage seiner Verstehensbasis urteilt.* Das wird nur im Maß der "excellency" des Schreibers etwas besser. Die Kraft des Gesprochenen als Kommunikationsmittel ist unvergleichlich höher, als sie Schrift je erreicht. Wir vergessen allzu leicht, wie wenig die Schrift von dem aufnehmen kann, was das Sprechen zu vermitteln vermag. So daß die Fähigkeit, reale Situationen mündlich zu meistern, die der schriftlichen Bewältigung bei weitem übersteigt. 

Gerade die Technisierung der Abläufe - in der Wirtschaft zeigt es sich deutlich - und das Ansteigen nach Dokumentation (in der Schriftlichkeit) hat die Notwendigkeit mündlicher Konferenzen und Besprechung nicht nur nicht abgeschafft, sondern technische Durchdringung läßt (und ließ nachweisbar) Besprechungen sprunghaft ansteigen. Die sich oft sogar nur damit befassen, schriftliche Dokumente zu klären, die Verwirrung angestiftet haben. Dokumente, Briefe, können kaum mehr als Fußnoten und Bestätigungen zu vis-a-vis-mündlichen Besprechungsinhalten darstellen. 

Jeder kann ja versuchen, ein Gespräch schriftlich wiederzugeben - er wird feststellen, wie schwierig, ja unmöglich das ist. Vielmehr macht es eine Redaktion notwendig, und damit eine Änderung des gesprochenen Wortes, um Inhalte - je nach Verständnishorizont und Ordnungsfähigkeit des Schreibers! - auszudrücken. Ohne vorgefaßten Sinn kann man ja überhaupt nicht schreiben. Die Schrift kann aber nicht fassen, kann gar nicht ausdrücken, was alles in der mündlichen Rede vor sich ging. Und sie hat eigene Regeln, die nur mehr oder weniger annähernd das Gesagte einfangen können. Geschriebenes ist also auch nur von jenen mehr oder weniger gut zu entziffern, die auch diese Regeln adäquat in Gesprochenes umdeuten können. Im Maß, wie der Entzifferer "gut" reden kann.

Einer der Gründe dafür, schreibt Ong weiter, ist, daß das gesprochene Wort Teil einer Aktualität ist, und seine wirkliche Bedeutung sich nur aus dem Kontext einer Situation ergibt. Dieser kaum eingrenzbare, faßbare Kontext ist in einem Gespräch zum Beispiel automatisch da, und alle Sinne sind beteiligt im Liefern von Qualitäten, die direkt mit der Aussage zu tun haben. In der Schriftlichkeit muß der Leser sich alles die Situation des Schreibenden betreffend vorstellen, und es zusätzlich inhaltlich umsetzen, und beides kann er nur in seinem Maß. Die sinnliche Wirklichkeit des Schrifttextes ist bereits anderes, als die als Hörender, und sie ist eine neue und weitere Aussage. Denn es ist zu berücksichtigen, daß die Situation des Lesens selbst bereits ein Kontext IST, der sich auf die Bedeutung auswirkt. 

Im Lesen fehlt die Innerlichkeit des Sprechenden, obliegt der Vorstellungswelt des Lesers.** Im Hören wird diese Innerlichkeit ja schon alleine über die Stimme sehr umfassend mitgeliefert.*** Das Sehen muß das Objekt aufbrechen, um es zu durchschauen. Das Hören aber hört es aus sich, als Ganzes, und in seiner Qualität. An der Entwicklung des Hörens (nicht im selben Maß bei den anderen Sinnen!), in der Innerlichkeit des Hörgeschehens, läßt sich sogar die intelligente Stufe eines Lebewesens ablesen - je höher und von Zentralität (das entscheidende Merkmal von Organismen) bestimmt und durchwirkt es ist, desto innerlicher ist sein Hören, und desto näher kommt es menschlicher Intelligenz. Den tiefsten Punkt von Innerlichkeit, parallel dazu, verortet der Mensch in seiner Geistigkeit, die das bloße Denken noch einmal übersteigt.





*Der Verfasser dieser Zeilen hat bereits mehrmals hier darüber gehandelt, wie lächerlich es ist, die heute bei über 50 Prozent der Grundschulabgänger auftretende Unfähigkeit, sinnerfassend und -zusammenhängend zu lesen, als Mangel von "Lesetrainings" etc. der Schule anzulasten. Ja, es liegt nicht einmal daran, daß "zuwenig gelesen" wird. Rein quantitativ ist nämlich das Gegenteil der Fall: noch nie wurde so viel gelesen, wie heute. Ja, das ist sogar Teil der Krankheit. Lesen und Verstehen ist keine Frage technischer Schriftbeherrschung. Bestens trainierte Fähigkeit, Buchstaben in Worte und Sätze zu transferieren (=Lesen), kann sogar gefährlich das Sprechen entleeren. Lesen ist aber eine Frage der Persönlichkeit. Aus der Erfahrung seines Lebens heraus meint der Verfasser dieser Zeilen sogar, daß man es heute bereits mit über 90 Prozent dysfunktionalem Analphabetismus zu tun hat. Nur wenige Menschen trifft man, denen ausreichend zuzutrauen ist, daß Ihr schriftlicher Ausdruck auch das transportiert, was sie wirklich meinen. Die Höhe einer Kultur oder "Bildung" aus dem Fehlen von Analphabetismus ableiten zu wollen ist einfach dumm.

In dieselbe Kerbe schlägt das Problem des Rechnens, das jüngste Erhebungen ergeben haben, und das in der Presse mit "Jeder zweite Schüler kann nicht rechnen" beschlagzeilt wurde. Jeder sechste Vierzehnjährige kann nicht einmal einfache Grundrechnungen durchführen. Besonders unter Migranten ist der Anteil besonders hoch. Das läßt auf zwei Ursachen schließen - die Lehrmethoden beziehungsweise Zustand und Stellung der Schule, und den kulturellen Zustand. Ohne in Details zu gehen, läßt sich ein Grundzug annehmen, der in eine Grundthese der Kulturkritik läuft.

Rechnen ist ja keineswegs ein abstrakter Vorgang, sondern fußt in einer unmittelbaren Kraft zur Vorstellung von Dinglichkeiten. Ja, überhaupt im Grundverhältnis zu den Dingen. Wem die Dinge verschwinden, der kann nicht mehr rechnen, weil ihm geistig die Dinge/Einheiten entgleiten. Das einzige was verwundert ist, daß diese so deutlichen Symptome, die unter anderem auf den Medienkonsum verweisen, niemand in ihren Wurzeln erkennt. Keine Methode der Welt vermag wirklich "rechnen" zu lehren, wenn das Verhältnis zu "Eins" sowie seinen Bezügen - Zwei, Drei, etc. - , dem Ding also, nicht distinkt ist, auf das alle übrigen Zahlen und Rechenoperationen aufbauen. Wer die Beziehungen zu den Dingen abschafft, indem er sie orts- und zeitlos macht, löst auch die Vorstellung auf, die im Erleben der Welt gründet - die Geometrie. Dann greifen nur noch voluntaristische, positivistische Gedankenabläufe, und sie sind typische Erscheinungen fehlender Kultursubstanz, der Entwurzelung. Die Konstruiertheit braucht, um noch "etwas" zu sein

Nur Ort und Zeit läßt erleben, und insofern erkennen. Arithmetik bezieht sich auf die Geometrie. Nur aus der Kraft zu Dinglichkeit kann sich auch Rechnen bilden. Wem die Dinge innerlich - in Emotion, aus Mangel an Kraft zur Dinglichkeit, aus Mangel an Dingen - verschwimmen, kann mit ihnen nicht spielen, sie in kein Verhältnis setzen. Wenn die Welt ihre Ordnung nicht mehr repräsentiert, werden die Dinge nicht mehr erfahrbar. 

**Aus der Erfahrung mit dem Sprechen selbst hat der Verfasser dieser Zeilen die Gewißheit gewonnen, daß Stimme, Sprache NIE lügen können. Es liegt nur am Hörenden, das herauszuhören beziehungsweise sich dessen bewußt zu werden. Wie anders im Schreiben, im Lesen. Nichts ist so leicht zu belügen, wie ein lesendes Publikum. Wenn Simone Weil die Abschaffung der Parteien verlangt, so hat das genau diesen Hintergrund: Ein wirkliches Bild von einem Mandatar kann sich ein Wähler fast nur im direkten Gegenüber bilden. Was nicht heißt, daß nicht gerade mit dieser Tatsache erst recht gelogen werden kann. Indem andere Mechanismen eingesetzt werden, die die Interpretation, die hörende Wahrnehmung blenden. Hitler war schon deshalb den meisten Kandidaten überlegen, weil er per Flugzeug - schon das eine Aussage die der Stimmung der damaligen Zeit voll entsprach: In ihrer Faszination von Modernem, der Gier nach Neuem - die gewaltige Anzahl von Vorwahlversammlungen besuchte. Alle diese Versammlungen aber waren perfekt inszenierte Massensuggestionen, die die Wahrnehmung des Redners bereits vorgaben, und die Hitler eben in die Augen hoben, die nur Oberflächen sehen. Zuhörer, die sich nicht beeinflussen ließen, die genau zugehört hatten, wandten sich - als Phänomen ist das bezeugt - rasch von ihm ab. Ein Zuhörer am 13. März 1938 am Wiener Heldenplatz hat dem Verfasser dieser Zeilen erzählt, wie er Hitler aus wirklichem Interesse genau zugehört habe. Sein Urteil war augenblicklich klar: ein Wahnsinniger. Hitler gab es nur inszeniert. NIE "entspannt", gelassen, als "er selbst". Er war nie er selbst, alles war "Rolle" und Interpretationszwang auf den Wahrnehmenden, der in eine schizoide Situation geriet. Hitler-Anhänger ähneln deshalb frappierend Mißbrauchsopfern, nicht weniger als ein großer Teil der heutigen Österreicher, die zu ihrem Mißbrauch ja zustimmen.

***Häufig findet man die These, daß deshalb die audiellen Medien dieses Hören ersetzen könnten. Das ist ein tragischer Irrtum! Richtig daran ist nur, daß sie der Sehnsucht nach Gehörtem entsprechen. Sie sind nicht nur eine völlig andere Situation, und damit Aussage, sondern über die technische Weiterentwicklung zur Elektronik wurde der sinnliche Inhalt eines Gesprochenen immer mehr verkürzt, und nicht nur das, er ist - über den Programmierer, der entscheidet, WAS WIE erfaßt und transformiert wird - bereits in höchstem Maß interpretiert. Zwischen altem Röhrenradio oder mechanischem Plattenspieler und digitalem mp3-Player besteht also nicht einfach ein quantitativer, sondern ein prinzipieller Unterschied. Das gleiche gilt sinngemäß vom Wandel der Photographie, von analog zu digital. Das digitale Kino oder Fernsehen bringt sich selbst um. Darüber ein andermal. 





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