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Donnerstag, 31. Januar 2013

Vertrauenssprache

Anders, als vielfach gemeint wird, hat die Schriftlichkeit für den Menschen keineswegs die höhere Verbindlichkeit. Im Gegenteil, das Mißtrauen gegen den Menschen wird dadurch sogar ausgedrückt, etwas zu verschriftlichen. Und auch ein Vertrag - wer des öfteren mit Gerichten und der Rechtssprechung zu tun hat, wird wissen, wovon hier die Rede ist - bezieht seine Relevanz nur auf den Bezug zum "gemeinten", zu den Personen, die ihn geschlossen haben, und ihrer "vorschriftlichen", realen Beziehung zueinander. Nicht einfach aus der Logik der Schriftzeichen.

Walter Ong weist explizit auf die auch heute noch zu beobachtende Tatsache hin, wie sehr mündliche Kulturen dem Geschriebenen mißtrauen - und im letzten ist jede Kultur, auch heute, mündlich, wir vergessen das nur gerne. Fleischlich. Nicht Schrift. 

Das deutsche Wort Stimmung in seinen Konnotationen zu Lautharmonie, Harmonie einer Gruppe oder einer Situation, Ton, aber auch zu richtig und Recht, in stimmig, stimmt, gar in Zustimmung, zeigt diesen klaren Bezug zur Mündlichkeit als Ausgangspunkt aller Medien. Handlungsbezogene Kommunikation ist ihrem Wesen nach Mündlichkeit. Noch im Wort Moral ist dieser Zusammenhang von Ethik und Mündlichkeit (orality) erfahrbar. Die Lüge gehört fast zum Wesen des Schriftlichen. 

Weniger, weil "leichter" gelogen werden kann, sondern weil alles Schriftliche in seinem Bezug zur aussagenden Person erst seinen Bezug zur Wahrheit herstellen kann. Denn die Person selbst ... kann gar nicht lügen, steht sie einem gegenüber. Die Wahrheit liegt in der Gestalt. Sie ist in ihrer Wahrheit immer wirklich (sinnlich) erkennbar. Sie kann nur den Zugang zu dieser Erkennbarkeit verwischen, durch Prädestination, Manipulation des Hörenden. Im Geschriebenen aber fehlt dieser Bezug zum Anderen, der Lesende wird sich selbst Maß der Relevanz des Textes. Und jeder Leser weiß das, weshalb seine Haltung einem Text gegenüber völlig anders, skeptischer fundiert ist, als in der direkten Begegnung mit einem aussagenden Menschen. Ein geschriebener Text wird nicht graduell, sondern prinzipiell anders rezipiert, als ein von einer Person gehörter - er wird zuerst kritisch betrachtet, denn er tritt als Konfrontation auf.*

Und hier wiederum graduell abgestuft, zur Art des Mediums, zu seiner physischen Eigenschaftlichkeit. Wer würde eine wichtige Mitteilung mit Kreide auf eine Tafel schreiben? Auf die Flüchtigkeit und extrem leichte Manipulierbarkeit einer Bildschirmillusion? Welch anderer Qualität ist da schon ein durch aufwendiges Druckverfahren hergestelltes Wort. Selbst sie kann aber auch nur näherungsweise das Gesetz aller Dinge aufzeigen: Inhalt ist direkt mit seiner Form verbunden, er ist nicht abtrennbar. So sehr, daß das Geheimnis der Erlösung den Gottmenschen selbst erfordert hat, das lebendige Wort. Keine Lehre oder Weisheitsrede als Text (oder über andere Lehrer) hätte das je erfüllen können.

"Sound situates man in the middle of actuality and in simultaneity, whereas vision situates man in front of things and in sequentiality." Und: "Sight prevents surfaces. Sound - inner qualities."

Im Hören bin ich mitten in einer Situation, der Ton übermittelt mir eine extrem komplexe Aktualität und Beschaffenheit des Raumes, der Gegenwart.** Sehen hingegen ist eine Fähigkeit des "Hintereinander", und der Sehende sieht nur, was er auch bereits verstanden hat. Sehen ist schon physikalisch Reflexion (Lichtreflexion), und es ist es in jeder Hinsicht. Es benötigt das (isolationaistische) Denken der Abstraktion.*** Ohne Licht in uns sähen wir auch keine Sonne.






*Der Konsum von Medien selbst, ihr Gebrauch, ihre Rolle im Leben verändert deshalb die Persönlichkeitsstrukturen. Er ist nicht primär inhaltlich definiert. Aber Medien selbst wirken auf eine Kultur direkt verändernd. Und die Sichtweise, unsere kulturelle Entwicklung in direktem Zusammenhang mit ihrer medialen Entwicklung zu sehen, hat ein tiefes fundamentum in re. Auf einen klaren Nenner gebracht: Der Gebrauch der Internet-Medien (social media) wirkt bereits in geringer Dosis direkt auflösend auf die Kraft einer Persönlichkeit, die die Kraft ist, sich selbst zu durchdringen und in ihren Bezügen zu halten, sich selbst auf eine Weise "zu setzen". Darin liegt ihr Abhängigkeitspotential. Wer Medien für wesentliche Vorgänge benutzt, benötigt sie zunehmend. Das zeigt die ganze Lächerlichkeit und Gefährlichkeit der Diskussion um Wahrheitsvermittlung über das Netz bzw. social media. Denn Heiligkeit hat direkt mit Persönlichkeitsstärke zu tun.

**Das macht das Hören über Schallträger so problematisch, gerade dort, wo er Raum simuliert. Denn es ist eine Konzeption von Räumlichkeit, die dadurch vermittelt wird. Sie ist wesentlich - nicht graduell! - vom Hören (sagen wir: eines Orchesters) unterschieden. Sie ist deshalb eine Abstraktion des Hörens selbst, das in Wahrheit vom Hörenden in einen weiteren Bezug gestellt wird, in den realen Raum, in dem er sich befindet. Je vollkommener das Medium deshalb das Hörerlebnis nachzubilden versucht, desto entwirklichter ist das Hörerlebnis selbst. Der Mensch erschlafft in seinem Selbstsein, in dem er nämlich wirklich SEIN, also bilden MUSZ, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Je technisch perfekter deshalb die Medien sind, in denen "gehört" wird, desto katastrophaler ist ihre Wirkung auf den Habitus des Hörenden. Umso höher wird sein Verlangen, gleichzeitig, weil das Hörerlebnis auch seine Wirklichkeitskonzeption übernimmt, ihn somit immer existentieller trägt und verankert. Darin liegt der Grund für die immer lauter gewordene Musik auf Tonträgern (die Grundlautstärken sind in den letzten Jahrzehnten massiv angestiegen, wie die Plattenproduzenten betonen), darin liegt der Grund für die immer aggressiveren Abspielgeräte, bis zu den Subwoover-Techniken, die schon massiv auf die Umwelt ausgreifen. Und damit den Wirklichkeitsabschließungsraum ausweiten, indem wir uns in einer rational geschaffenen "Welt" halten. "Being in is what we experience in a world of sound," schreibt Walter Ong.

***Nur in diesem Rahmen - dem der Abstraktion - kann die Schriftlichkeit als kulturelle Erscheinung, undenkbar aber ohne kulturell-institutionellem Rahmen, also klarer gesellschaftlicher Strukturen, bejaht werden. Während sie heute zum Strohhalm wird, an dem sich die Menschen festhalten wollen, um so ihrem Dasein Kontinuität und Dauer zu verleihen, und damit den wahren Zerfallszustand anzeigt. Der Griff zu den social media ist ein panischer (aber irrender) Griff Ertrinkender, um überhaupt noch zu bestehen. Ein Zeit- und Krankheitssymptom, keine kulturelle Entwicklung.




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