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Samstag, 24. Oktober 2015

Die vergessene Dimension (1)

Gut, auch das muß gesagt werden, wo es ansteht: Die Reform des Prozeßrechtes bei Annullierungsverfahren scheint ein sinnvolles Ergebnis erbracht zu haben. Zwar zeigen die Reaktionen - bei weniger dem katholischen Glauben nahe Stehenden genauso wie in Kreisen erklärt Frommer - daß das Wesen einer Annullierung nach wie vor kaum verstanden wird. Und die meist positiven Reaktionen sehen sie nach wie vor als eine Art "kirchlicher Scheidung". Aber das muß einmal so zur Kenntnis genommen werden. 

Auch die Ehe verstehen ja nur die Allerwenigsten, und im selben Sinn. Die einen sehen sie als Folklore, meinetwegen noch als gewisse pragmatische oder nützliche Ethik, die schon so seinen Sinn haben mag. Weshalb vor allem die jungen Menschen in der Ehe kaum Sinn sehen, der Anteil der Unverheirateten, aber Zusammen- oder wieder Getrenntlebenden, ist enorm hoch, junge Leute sprechen heute nur noch von "Beziehungen". 

Die anderen mißverstehen sie genauso, die sie als moralischen oder gar frommen Kraftakt zweier Menschen betrachten. Ganz so, als stünde Ehe isoliert da, wäre ohne gesellschaftliche Verflechtung denkbar. Wo doch die öffentliche und mit dem gesellschaftlichen wechselwirkende Dimension der Ehe untrennbar in ihrem Wesen liegt. Darunter sind nicht wenige, die sopranaturalistisch meinen, objektive Unvereinbarkeiten - und das ist eine ungültig geschlossene Ehe, denn die Gnade braucht die Natur, setzt sie voraus, folgt ihr - könne man mit möglichst viel frommem Verhalten wegbeten. Auch sie haben die Annullierung nicht verstanden.

Die eben die Feststellung (nach Prüfung) einer objektiv nie geschlossenen Ehe ist. Nicht mehr, nicht weniger. Und nachdem nicht heilen kann, was nie bestand, kann sie auch nicht saniert werden. So kommt ein Annullierungsverfahren also einer Befreiung wenigstens eines der beiden Teile (die Ehe "hinkt" nicht, sie braucht immer beide, sie ist also auch nicht gültig, wenn nur einer der Partner sie ohne Einschränkung richtig verstand und schloß) von einer Dämonie gleich, in der nur die nominelle Sprache aufrechthielt und forderte, was von der Wirklichkeit nicht gedeckt war, sich deshalb nie mit Blut füllen konnte. 

Somit erklärt ein Annullierungsverfahren auch vielfach das "Scheitern einer Ehe", wie betroffene Paare es dann feststellen müssen. Unabhängig, ob Kinder da sind oder nicht, denn diese sind nicht selten sogar Zeugnis des redlichen Bemühens, DOCH eine gute Ehe und Familie zu leben, obwohl (und das wird oft unterschätzt) dieser ontologische Mangel im tiefsten Unterbewußten sehr wohl geahnt, nein, um ihn gewußt wird. Es löst somit zwei Menschen aus ihrem Schuldbewußtsein. Denn bei einem Scheitern bei gültiger Ehe ist praktisch immer von Schuld auszugehen, die entsprechende Aufarbeitung braucht. 

Bei einer Annullierung ist das aber anders, und ermöglicht wie braucht also auch eine völlige andere Aufarbeitung. Das gilt vor allem für die Kinder, was auch so oft übersehen wird. Denn auch sie spüren diesen objektiven Mangel, das ist sicher, sie spüren, daß das was sie zuvor erlebt haben, ein Theater war, im Grunde sogar: Sakramentensimulation.

Das mögen manche nicht gerne hören, aber es sind nicht selten gerade die Bemühtesten somit die, deren Ehe am meisten unter Verdacht steht, nie gültig gewesen zu sein. Was in der Umgebung, die kaum einmal weiß worum es überhaupt geht, zu Irritationen führen kann.

Und nur jene, die mit dem Glauben überhaupt etwas am Hut haben,  zumal heute, werden auch ein Annullierungsverfahren anstreben. Für den Rest versinkt das Thema Ehe und Scheitern ohnehin im Misthaufen der Verdrängung.

Die Ängste, daß nun, bei einem garantierten Prozeßverlauf nicht länger als ein Jahr (vorausgesetzt, es wird das erstinstanzliche Ergebnis - die Heimatdiözese, mit dem Bischof als obersten bzw. letzten Richter in der Angelegenheit - von beiden anerkannt) und nur einer unbedingt nötigen Instanz zu einer Inflation von Annullierungsverfahren kommen ist ganz sicher unbegründet. Wenn auch die Befürchtung, daß es zu einer weiteren Ausdünnung des Ehebewußtseins kommen könnte, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Denn der VdZ sieht als nächstes schon das Spielen mit einem Annullierungsverfahren selbst als Tatbestand einer nicht gültig geschlossenen Ehe.

Aber Zeit spielt in einem redlich angestrebten Verfahren (wobei diese Redlichkeit sich nur auf einen der Betroffenen beziehen muß) eine überaus große Rolle. Hier wurden bislang wahre Tragödien von der Kirche mit angerichtet. Denn da stehen zwei Menschen, deren Zusammenleben als Ehepartner nicht funktioniert hat, wie sie nach etlichen Jahren feststellen müssen. Tatsache ist aber, daß aus zivilrechtlichen Gründen eine enge Verflechtung der Lebensagenden - das betrifft sowohl den Mann als auch die Frau, nur je anders - stattgefunden hat. "Putativ", das heißt: beide gingen zuvor ja davon aus, daß die Ehe gültig sei. Bis aus dem Verlauf dieses gemeinsamen Lebens heraus der Umstand auftrat, daran zu zweifeln, einen grundlegenderen Mangel zu vermuten, der eine Trennung unumgänglich machte.

Nun, womöglich in der Mitte ihrer jahre angekommen, stehen beide Partner vor der schwierigen Situation, das bisherige Leben nicht mehr forsetzen, ein neues aber auch nicht beginnen zu können. Denn vorausgesetzt, daß etwa eine Eheunfähigkeit (auch das sollte nicht vergessen werden) bzw. der Ehemangel nur vorübergehend war (und nicht eine generelle Unfähigkeiet zur Ehe bedeutet, weshalb einer aus diversen persönlichen Gründen annullierten Ehe auch eine Prüfung auf Ehefähigkeit durch die Kirche folgen muß, auch das vergessen viele) ist jeder der beiden ja kraft menschlicher Natur auf eine Ehe hin ausgerichtet, "braucht" also einen "neuen" Partner. 

Nicht selten ergibst sich das sogar aus pragmatischen Notwendigkeiten, besonders für Väter. Die unter dem zivilrechtlich ja keinesfalls abzuschüttelnden Joch von Unterhalts- und Alimentenverpflichtungen in einer enorm großen Zahl der Fälle ein "zweites Leben" kaum noch führen kann. Er braucht schon aus diesem Grund auch die finanziellen Vorteile einer Ehe, wenn er nicht überhaupt jemanden braucht, der ihm mit seinem Einkommen ein Überleben erst ermöglicht. 

Die Obdachlosenheime sind voll mit solchen Fällen. Alleine in Österreich muß jährlich von zumindest 2000 Männern (mit einer ums Vielfache höheren Dunkelzahl) gesprochen werden, die nach einer Scheidung bzw. Trennung nicht mehr existieren können.

Dauern aber Annullierungsverfahren fünf, zehn oder noch mehr Jahre (und solche Fälle gibt es mehr, als der Unbedarfte glaubt) so verstreicht für beide Partner wertvollste Zeit, ja ihre besten Jahre, um noch einmal "anfangen" zu können, wenn natürlich auch mit einem Rucksack von geschaffenen und zu bewältigenden lebensweltlichen Fakten. Es ist ein Unterschied, ob jemand mit vierzig noch einmal anfangen möchte und kann, oder mit fünfzig, vielleicht nach zehn Jahren schärfster Lebensbedingungen. Dem Menschen geht einfach die Kraft aus, und das passiert gerade an solchen Lebenssschwellen in Sprüngen. 

Unabhängig von so vielen weiteren Schwierigkeiten, denn ein Dreißig- oder Vierzigjähriger wird auch von der Umgebung völlig anders rezipiert, als ein Fünfzigjähriger, wenn diese alle vor sie als "Anfänger" hintreten. Darauf hinzuweisen ist von größter Wichtigkeit, denn auch dieser Umstand wird heute fast durchweg völlig außer Bedacht gelassen - dabei ist er von so großer Wichtigkeit, und erhellt viel, wenn man ihn erkannt hat.



Morgen Teil 2) Wenn die Zeit zum Inhalt umschlägt - 
Der überall vergessene Faktor: Die Bedeutung der Lebensalter






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