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Sonntag, 25. Oktober 2015

Die vergessene Dimension (2)

Teil 2) Wenn die Zeit zum Inhalt umschlägt - 
Der überall vergessene Faktor: Die Bedeutung der Lebensalter




Der Mensch lebt eben in Lebensphasen, in Lebensaltern. Bis in die ersten Umbrüche Ende der Zwanziger - bei der Frau etwas früher, mit rund 28-30, beim Mann etwas später, mit rund 31-33 Jahren - sucht der Mensch sich überhaupt zu positionieren, sich in der Welt zu finden. Hier ist auch die Phase der leichteren Prägbarkeit, die Lernphase, die Phase der Ausbildung, und vor allem der ersten Versuche, etwas aufzubauen. Und dazu gehört auch die Eheschließung, die Gründung einer Familie. Man schafft also in diesem Zeitraum, der noch den Römern als "Jugend" galt, die Fundamente des weiteren Lebensverlaufs. In dieser Phase sind Neuanfänge noch relativ leicht möglich, es ist generell eine Phase des Probierens und Versuchens, und wenn man etwas kritisieren vermag dann das, daß die Bereitschaft, Fehler, die ein Mensch in dieser Zeit macht, zu verzeihen, gewiß höher sein könnte.

Anders aber bereits der Umgang mit Menschen der Erwachsenheitsphase, also ab etwa dem 30. Lebensjahr, wie oben angeführt. Denn der Jugend folgt die Phase des ritterlichen Kampfes, die Phase des Menschen in der Akmé, wie sie die Griechen nannten. Auf gutem identitären Fundament ruhend, schafft sich der Mensch einen Lebensraum. Er setzt sich durch, baut auf, ist schöpferisch in seiner Blüte, und gestaltet in Rüstung und Harnisch das Leben in dem er steht nach seinen Vorstellungen. Er baut Vermögen und Besitz auf, die zur Lebenswirklichng eben gehören, behauptet wie gestaltet seinen Platz als Individuum in der Gesellschaft. Dies ist auch die Phase der Verdienste, die er sich zu erwerben vermag, der Ehren und Anerkennungen, die es zu sammeln gilt. In dieser Phase sind Neuanfänge zwar noch möglich, aber auch sie sind bereits von einem mehr oder weniger großen Rucksack belastet. 

In jedem Fall würde die Zeit dafür knapp. Denn wie so vieles im Leben, hat alles seine Dauer, alles einen Rhythmus, und alles seine Lebensbögen in der Zeit. Ohne viel hineingeheimnissen zu wollen, brauchen einfach alle Werke (je nach Art, je nach Ebene) eine gewisse Zeit, um sich zu ihrer Vollgestalt entwickeln zu können, was immer heißt: ihre Krisen durchzufechten. Die meisten Lebenswerke sind deshalb in 3-, 7-, 13- und 21-Jahres-Bögen eingespannt, die man in gewisser Weise mit den Phasen der Lebensalter vergleichen könnte, sie sind ähnlich charakterisiert. An diesen Punkten. Der Volksmund kennt sie durchaus. Nur sind die meisten Erklärungsversuche aus Lebensumständen selbst hilflos unzulänglich. Gibt man aber diesen Werken NICHT diese Zeiten, können sie nicht zu ihrer Vollfrucht ausblühen. 

Damit etwa ein Lebenswerk wirklich als eigenständiger Organismus für sich zu bestehen beginnt, und seine Früchte abwirft, sind diese langen Phasen entscheidend. Hier kann nichts übersprungen werden, schon gar nicht bei Neubeginnen, bei Gründungen, denn Zeit ist das Auseinanderfalten der Tiefe der Dinge und des Mosaiks der Welt, die für sich selbst wiederum alle ihre Reifezeiten haben und brauchen. 

Es gilt also in der Zeit vom 30. bis zum 60. Lebensjahr, sich die Welt anzueignen, sie zu durchdringen, um sie allmählich (in der Vernunft) zu besitzen.

An diese Akmé, an diese Phase der Ortsbehauptung und des Ausbaus eines Werkes, folgt das Alter. Erstmals steht der Mensch nun seinem (!) Lebenswerk GEGENÜBER. Es hat eine gewisse Selbständigkeit erlangt, und nun kann er Früchte ernten. Tut er das nämlich zu füh, in der Phase der Akmé, so gefährdet er sein Werk. Das betrifft übrigens ganz genauso die Ehe, die Familie. Weil ihm nun aber die Welt mehr und mehr gegenübersteht, er sie mit seiner Vernunft durchdringen konnte, er gereift, als nicht mehr in die Lebensvorgänge selbst unlösbar gebunden, deren passiver Teil ist, folgt nun die Phase der geistigen Vertiefung, ja nennen wir sie: die Phase der Weisheit. Sie ist von allen vorherigen Phasen völlig unterschieden. 

Die körperlichen Kräfte lassen nach, das aktive Tun wird weniger, gerät schließlich in den Hintergrund oder wird überhaupt abgelegt, noch mehr: In die Hände der nächsten Generation gelegt. Und genau durch diese Distanz zur Welt, die sich nun aufzubauen beginnt, beginnt der mensch zu verstehen, gewinnt er Einsichten, die der aktiv ins Leben Verstrickte, von Interessen notwendig Getriebene, gar nicht gewinnen kann, ja gar nicht "darf" (denn er "muß" seine Interessen verfolgen, sonst wäre er säumig oder gar verantwortungslos.) Der ins Leben nun hereinwinkente Tod beginnt seine Rolle zu spielen.

Es gibt also auch eine Positionierung der Alter ZUEINANDER. Die jeweils am anderen eine unterschiedliche Aufgabe zu erfüllen haben. Der Junge, der probiert, der Erwachsene, der aufbaut und festigt, und der Alte, der von alle dem geläutert, weil es hinter ihm liegt, mit Rat und Weisheit den beiden zur Seite steht und ihr Tun immer mehr vor dem Licht des Ewigen sieht, Der bereits Linien sieht, die den beiden anderen Gruppen noch fremd sein müssen (!), sonst wäre sogar ihr Tun in Hingabe (der Voraussetzung der Reife) gar nicht möglich.

Wir belassen es bei diesen kargen Andeutungen. Sie sollen aber zeigen, daß es keineswegs bedeutungslos ist, wie lange ein Annullierungsverfahren dauert. Und die Kirchengerichte hätten sich dies schon lange bewußt machen sollen, denn es hat seine Bedeutung auch in jedme Fall anders. Es ist ein Unterschied, ob ein Antrag von 40jährigen gestellt wird (der kirchenrechtlich eine "Klage" ist), oder von einem 25jährigen, oder von einem 60jährigen (was freilich kaum noch plausibel erklärbar ist.) Diese Frage hat noch dazu hohe politische Brisanz, denn in ihr treffen demographische, sozialpolitische Tatsachen mit tiefen individuellen Lebenswirklichkeiten zusammen, die zu ignorieren einfach töricht wäre - und dennoch in der Tagespolitik, ja im Volksbewußtsein, keine Rolle mehr zu spielen scheinen.

Von einem 50- oder 60jährigen, die vielleicht zehn Jahre auf ihr Annullierungsurteil zu warten hatten, zu verlangen, er müsse einen Neubeginn starten weil er nun erst dürfe, ist also sehr problematisch, und nicht selten hochgradig zynisch. Denn es hat seine Schwierigkeiten, aber auch Aporien bereits ab ovo eingebaut.




Morgen Teil 3) Wenn Zeit in Dogmatik umschlägt - 
 Sowie: Ein Rat an Kirchengerichte





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