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Samstag, 10. Oktober 2015

Utopismus aus Kulturverfehlung

Dieses (nur im Link verfügbare) kurze Video von der verbalen Auseinandersetzung zwischen Obama und Putin vor der UN-Vollversammlung Ende September ist enorm aussagekräftig. Und es läßt den Gedanken zur Sorge wachsen, daß die USA so wenig begriffen zu haben scheinen, was ein Staat überhaupt ist, daß man Rückschlüsse darauf ziehen muß, daß den USA selbst die Staatswerdung bis heute nicht geglückt ist. Das ist der Grund, warum ihre Staatspolitiker und -institutionen auch keine Selbstbegrenzung finden, sich damit über den gesamten Institutionenapparat der Welt überheben.

Denn sie flüchten seit Jahrzehnten in einen diffusen, universalistischen Werteutopismus, der sie nicht befähigt ja sogar behindert zu begreifen, was sie überhaupt außenpolitisch tun.* Weil ihm jede Basis in der Realität fehlt,, weshalb die USA von einer Fehleinschätzung in die nächste taumeln, umso energischer aber ihren Utopismus durchsetzen wollen. Der Optimismus, mit dem noch vor 70 oder 100 Jahren manche dieses Land betrachtet haben, hat sich nicht erfüllt. Es steht zu vermuten, daß die "Neuansätze", die manche zu sehen meinten, gutwillige Interpretationen jener Kulturrudimente waren, die aus der Herkunft seiner Bewohner noch existierten.

Wenn man die Rede von John F. Kennedy hört, so war dieses Bewußtsein zu Anfang der 1960er Jahre noch vorhanden. Kennedy warnt deshalb eindrücklich vor dem Verlust der Tradition, vor einem Umbau der geistigen Fundamente der USA, den er heraufdämmern sah. Es war fast prophetisch. Daß freilich sein Appell an eine "offene Informationsgesellschaft" wiederum utopisch war, zeigt sich heute: Eine noch so total informierte Gesellschaft ist keineswegs eine Garantie gegen Fehlentwicklungen. Denn nicht die Information entscheidet, sondern die Geformtheit eines staatsbildenden Volkes in Freiheit, und das ist weit mehr als willkürliche Entscheidungsmöglichkeit. Hier sitzt also bereits der entscheidende Fehler, und er ist ein Geburtsschaden der USA als Staat. Alle späteren Entwicklungen sind Versuche, diese prinzipielle Problematik - im Grunde: ein Machtvakuum als Folge einer ungelösten Legitimationsproblematik - zu nützen. Der Appell an die Informiertheit der Amerikaner ist deshalb als hilfloser Versuch zu werten, dieses Konstruktionsdefizit durch "Allianz mit dem Volk gegen die neuen Eliten" auszugleichen.²




Die USA haben deshalb heute ein schwerwiegendes, tiefgreifendes, immer akuter werdendes Problem - das einer fehlbeschlagenen Kulturwerdung. Denn die Welt ist kein gestaltloses Funktionenresultat. Sie ist ein Zueinander von Gestalten. Erst diese tragen, ja definieren Funktionen, als Ausfluß ihres Selbstseins in Verantwortung für dieses Selbstsein. Damit zerfließt dieses Land, ist als Staatshülle Spielball innerer Partialinteressen. Um das zu sehen muß man gar nicht auf Tocqueville zurückgreifen, der diese prinzipielle Problematik schon vor 200 Jahren sah.

Wenn vor kurzer Zeit ein renommierter Kommentator und langjähriger Amerikakenner in einer großen deutschen Zeitung beklagte, daß ihm erschreckend aufgefallen sei, daß die Atmosphäre in der Stadt Washington völlig geistlos sei, weil es an den Köpfen fehle, weil das einzige was die real existierenden Köpfe interessiere - auch in den sogenannten think tanks - ihre Karriere sei, substantielle Debatte also gar nicht stattfinde, so sagt sich das dazugehörige und längst ausgereifte Symptom aus.

Es gibt nicht unerhebliche Meinungen die da sagen, daß die USA Opfer des scheinbaren Erfolgslaufes in der ersten Hälfte des 20. Jhds. geworden sind. Weil ihnen die Früchte damals regelrecht in den Schoß gefallen sind, sie aber nie begriffen haben, warum. Das hat sie in die Fehleinschätzung gelockt, sich wären in der Lage, ja dazu berufen, die Welt real zu beherrschen.  Das hat vor allem aber den militärisch-industriellen komplex zu einer gewaltigen Macht anwachsen lassen, vor deren allgegenwärtigem Einfluß bereits Dwight D. Eisenhower 1961 eindringlich warnte.




Aber mit diesem politischen Hinausgreifen in die Welt haben sie ihre Substanz maßlos überzogen. Was seit Jahrzehnten stattfindet, diese Reihe von Niederlagen in die sich selbst kurzfristige militärische Erfolge wandelten, ist also lediglich ein Prozeß der Läuterung auf ihre wahre Substanz. Aber die wurde seit diesen Erfolgen noch dünner, weil das Selbstbegreifen - und nur das kann kulturelles Wachstum, kann Substanz bringen - gar nicht nötig schien.** Nun ist es nicht mehr aufzuholen. Das Wahrscheinlichste ist also ein Rückfall in tiefsten Barbarismus.

So, wie ihn die amerikanische Kunst übrigens schon lange ahnt. Zum einen im Gestus der Verzweiflung (den man fast zum tragenden Merkmal ernennen muß), zum anderen im Rückzug und Zerfall des Ganzen ins Privatime. Was fälschlich als Renaissance der Familie diagnostiziert wird, die es bestenfalls als Sehnsucht für einen letzten Halt ist, weil sich die Realität ins Gegenteil entwickelt.



²Es ist verblüffend, wie in Europa genau dieser (prinzipiell verfehlte) Ansatz HEUTE als Allheilmittel angesehen wird, was wie die berühmte "Rache der Kolonien" wirkt. Eine Reform kann niemals "von unten" kommen. Das begriffen in den 1970er Jahren sogar die Linken der 68er, die sich zum "Marsch durch die Institutionen" entschlossen - und damit tatsächlich siegten. Die Parallelen der Intellektuellen von heute und jenen, die die französische Revolution (die selbst wieder ein Epigone der amerikanischen Revolution ist, denn eine solche passierte dort 1776) emphatisch begrüßten, zumindest am Anfang, sind verblüffend. 

*Und das ist ein Bildungsproblem, und darin ein Elitenproblem. Der VdZ beruft sich hier auf einige tiefgreifende Analysen aus den USA selbst (einige hat der VdZ in Buchform vorliegen), die schon vor 50 Jahren davor warnten, daß Amerika auf eine Bildungskatastrophe zusteuere, die von den Universitäten ausgehe, also mit Zeitverzögerung schlagend werde. Die immer mehr von Politik, Militär und Wirtschaft, ja überhaupt von Partialinteressen abhängig wurden, und damit zum Erfüllungsgehilfen absanken. 

Auch davor - vor dieser "Elite" - warnte Eisenhower in seiner denkwürdigen Fernseh-Abschiedsansprache.



**Was sich im übrigen auch in der Entwicklung des amerikanischen Englisch zeigt, die wie ein Sprachzerfall wirkt, weil sich Distinktheit verliert. Und das weist auf eine innere Haltung des Rückfalls, des verweigerten Formaufbaus hin.




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