Aber auf noch etwas muß man hinweisen - auf zwei Prinzipien des Rechts, die einander ausschließen und sich sogar in unserem (weitgehend römischen) Recht in der Frage nach Schuld als in Widerspruch stehend beweisen. Viele Menschen verstehen es auch nicht, weshalb es in Einzelfällen auch gehörig Aufsehen macht.
Die Rede ist vom Prinzip der Personalität des Rechts, der das Territorialprinzip gegenübersteht. Zur Geschichte der beiden ist auf die Entwicklung in deutschen Landen hingewiesen. Wo sich die germanischen Stämme (die im übrigen gar nicht immer so germanisch waren, wie die Kelten im Falle Bayern zeigen) in jeweiligen Territorien zwar zusammenfanden, diese Territorien aber relativ waren. Das Recht erstreckte sich auf Personen, die ein gemeinsames Werte- und Religionsgefüge, aber auch eine gemeinsam erfahrene Geschichte insoweit einte, als ihnen auch ein Rechtsempfinden gegenüberstand. Das hat sich dann in einem speziellen Recht geäußert. (Am bekanntesten ist der Sachsenspiegel als ein vorhandenes Recht niederschreibendes Partikularrecht der Sachsen.)
Deshalb auch hatte jede Ebene menschlicher Gesellschaft (als hierarchisch verfaßte Ordnung) einen eigenen Rechtsbereich. Was im Reich für die Könige und Kaiser das Problem brachte, daß ihre Rechtsbereiche keinen "Ort" hatten, wenn sie nicht eigens definiert wurden - überregionale Straßen, oder eigens definierte Reichs-Rechts-Plätze. Denn universalistischen Institutionen fehlte natürlich das konkrete Volk und damit der konkrete Boden (denn Eigentum ist ursprünglich eine Frage der Beziehung, wurde erst mit dem aufkommenden Kapitalismus "absolut", also - territorial-universalistisch, nicht personal- und nutzungsorientiert, so daß man es auch wieder verlieren konnte).
Diesem standen historische, realpolitische Gegebenheiten entgegen, die die Gründung von Territorialgefügen mit sich brachten, weil für notwendig erscheinen ließen. Bleiben wir dazu nur beim Begriff der "Marken", die das augenfällig demonstrieren. (Siebenbürgen ist im übrigen ein ähnliches Beispiel.) Diese Gebiete hatten, um es einfach zu sagen, kein "Volk", sondern nur eine Bevölkerung, und es hatte somit auch keine organisch-gewachsene Führung, sondern diese war willkürlich eingesetzt.
Das heißt, daß das Recht nicht durch eine gelebte Volkspraxis und -religion definierbar war, sondern positiv gesetzt werden mußte. Das "Österreich" der Geschichte ist ein Beispiel dafür, das auf dem Gebiet des heutigen Österreich mit dem Recht der Stämme (meist bayrischen Ursprungs, in Vorarlberg freilich alemannisch) in Bundesländern wie Steiermark, Kärnten, Tirol, Salzburg auf gewachsenes, personal verankertes Recht traf.*
Ins Gebiet des heutigen Ober- und Niederösterreich wanderten dann zufällige "Personen" aus allen möglichen deutschen Stämmen ein, die miteinander weitgehend nichts zu tun hatten, die aber ein positives Recht zusammenhielt und ordnete. Diese Menschen unterstellten sich also einem universalistischen Recht. Das mit der Reichsrechtsreform unter Kaiserin Maria Theresia (unter Aufhebung sämtlicher Partikular- und Territorialrechte, was im Falle Tirol sogar zum speziellen Problem wurde**) zum allgemeinen Recht der gesamten späteren k. u. k. Monarchie gemacht wurde.
Das hat tiefgreifende Folgen. Weil es das Verhältnis der Menschen zum Recht und damit zur Freiheit als Grundlage der Rechtssetzung bestimmt. Nicht zufällig sind die Länder mit dem stärksten Eigen- und Regionalbewußtsein auch Länder mit früherem Personalrecht. Recht wird und bleibt für Menschen unter Territorialrecht immer ein universalistisches, rein rationales, ja moralistisches Gut, das keine direkte Verankerung mehr im Leben eines Volkes hat, dieses Leben (das immer zuerst ein religiöses Leben ist) als eigentliche Grundlage von Recht (und Gesetz als dessen Ausdruck) anzusehen.
Somit sagt dieser Aspekt der Rechtsgeschichte auch viel über den Charakter eines Volkes und eines Staates aus, welch letzterer Begriff den Volksbegriff fast zur Gänze bereits hat in Nebeln (und der Reaktion darauf, in positivistischen, willkürlichen, irgendwie vielleicht rassisch etc. begründeten Begriffen) verschwinden lassen. Territorialrecht hat aber nur dann Bestand, wenn es sich auf irgendeine Weise mit dem Personalrecht auszusöhnen vermag, diesem also auch entspricht. Weil es zuerst dieses Personalrecht ist, das auf dem Naturrecht als ontologischer Grundlage des Menschen aufruht. Wo es dem Territorialrecht widerspricht, entsteht in einer gesunden Kultur Konflikt und Widerstand.***
*Ein letzter Rest lebt noch in den Landesgesetzen, die sowohl deutsche wie auch österreichische Bundesländer (ein Reich ist ein "Bund" freier Länder ...) bis heute aufweisen (und worauf sich das Zwei-Kammern-System als National- und Bundesrat beruft), wenn auch fast schon durch den Zentralismus von Staat und EU verdunstet sind. Heute gibt es zum Beispiel in Niederösterreich nur noch das Feuerwehr- und das Jagdrecht als Proprium.
Ein ganz besonderer Fall, der aber das Gesagte illustriert, ist ein letzter Rest vandalischen Bodenrechts im Rechtssystem Spaniens, das eine Angehörigkeit zu dieser Minderheit unter ein spezielles Recht stellt, das bis heute (zumindest bis vor einigen Jahrzehnten) erhalten blieb.
**Tirol hatte seit alters her besondere "Freiheiten" im Rahmen des Reichs. Dazu gehörte auch, daß sie Recht auf Bewaffnung hatten, dem keine andere Pflicht gegenüberstand als ihr Stammesterritorium zu schützen. Kein Tiroler sollte jemals auf anderem Boden und für andere Zwecke kämpfen müssen. Maria Theresia ignorierte dieses Sonderrecht schlicht und einfach, fortan kämpften die Tiroler an allen Fronten des Habsburger-Reiches. Warum sich die Tiroler nicht wehrten? Weil die Habsburger in einer Doppelfunktion auch die persönlichen Grafen (und das Grafenamt ist immer persönlich verankert) von Tirol waren. Und als solche standen sie in personaler Einheit mit dem Volk der Tiroler. Damit war der Konflikt nicht mehr klärbar, wieweit das von dieser persönlich verankerten Rechts- und Gerichtsrepräsentanz auch solche Rechtsgrundsätze festlegen konnte. Die Tiroler entschieden sich für die persönliche Gefolgschaft - und erhielten universales, territoriales Recht.
***Das hat in der Betrachtung des Islam eine große Bedeutung. Denn in ihm
zeigt sich die scheinbar mögliche Verquickung beider Prinzipien - im
Zentralismus der Despotie einerseits, in der personalen Anhänglichkeit
anderseits. Aber das ist ein Trugschluß, der zur Folge hat, daß das
Personale Universalismus behauptet. (Denn wo nicht Vernunft das Prinzip des Lebens ist - und der Islam
anerkennt das Widerspruchs- und Willkürprinzip Gottes, ihm fehlt also die
im logos fußende Vernunft - kann es auch keine individuelle moralische
Freiheit geben; Moral wird zur Gesetzestreue.) Das MUSZ entweder Fanatismus und Moralismus, oder willkürliche Gefühls- und Situationsethik
zur Folge haben, und führt zu zahlreichen Widersprüchen mit oft stammesrechtlich verankertem Rechtsempfinden. Speziell dort, wo es nomadischen Ursprungs ist, also keinen Boden als Verwurzelung aufweist und damit überhaupt nur personal - oder/und mit Universalanspruch - existiert. Dazu vielleicht ein andermal noch mehr.
*020318*