Teil 4)
Aber Sie erfinden ja auch ihre
Figuren?
Nur in einem gewissen Sinn - so
kommen sie natürlich nicht vor, wie sie da beschrieben
werden. Aber sie alle tragen von irgendwoher aus Beobachtungen
gestohlene Eigenschaften, die ich an ihnen darstelle. Und zwar
weil diese Figuren in mir zu leben anfangen, ich gar nicht mehr
unterscheiden kann, ob sie real oder nicht sind. Ich rede, lebe,
streite mit ihnen oder verliebe mich gar in sie. Im Schreiben
stellen sie sich dar, woraus ersichtlich wird, was sie tun, nicht
was ich dabei will. Ich gehe Wahrgenommenem also gewissermaßen
nach, warum ist nicht bedeutend.
Kann man ihrem letzten Roman
"Helena oder: Das Gute ist was bleibt" entnehmen, daß
Sie für eine psychologische Literatur plädieren?
Aber überhaupt nicht, im
Gegenteil. Die heute als solche verstandene Psychologie ist ja nur
ein Erklärungsmodell, das aber einfach hinten und vorne zu
kurz ist und von einer Weltanschauung ausgeht, die der komplexen
Wirklichkeit nicht gerecht wird. Doderer nennt sie einmal eine
"Erkrankung des Geistes," das kommt auch meiner Ansicht
recht nahe: Heil wird man nur in einer Offenheit dem Begegnenden
gegenüber, frei nur durch Wahrheit. Wenn heute ein Roman etc.
als psychologisch erscheinen muß förmlich dann deshalb,
weil das Handeln der Menschen sich verändert hat: Alles hat
sich nach Innen verlegt, wir leben im wahrsten Sinne virtuell,
pseudologisch, wie es Doderer nannte. Somit kann man das Heute nur
darstellen, wenn man diese Gedankenebenen sieht und
berücksichtigt. Handlung wird durch diese Verwirrtheit
permanent verhindert, verkommt zum "Tun".
Wir haben es
heute mit starren, fast toten Menschen und Vorgängen zu tun,
die innerlich abgefangen werden. Impotenz also zum Quadrat. Wir
denken nicht mehr, sondern "werden gedacht." Das liegt
einmal am fehlenden Vermögen, Ziele zu gewichten und auch
überaktuell zu verfolgen, ein andermal an der immer größer
werdenden Furcht vor der Wirklichkeit und Wahrheit Die Menschen
erstarren in der Furcht etwas falsch zu machen und im Mißtrauen,
die Wirklichkeit könnte sie übervorteilen. Dann handeln
sie nach scheinbaren Sicherheitsregeln, um nur ja das gewünschte
Resultat zu erzielen. Es kommt nicht darauf an viel zu tun,
sondern das Richtige. Diese Kunst aber, die eine Frage des
Gewissens ist, haben wir verlernt, dazu sind wir zu viel sinnlos
informiert und doch nicht gebildet, und sie ist nur in
tugendhafter Unschuld auszuüben, das ist nicht mehr
rückgängig zu machen. Wir können fast nur noch
resignieren im Faktischen und Solitären.
Sie sind also Kulturpessimist?
Keinesfalls, sondern Realist - und
da kann man gar nicht anders als einen völligen Niedergang
vorherzusagen, dazu braucht man keine besondere Intelligenz und
Bildung.
Warum schreiben sie doch noch?
Wollen Sie die Welt noch retten?
Erstens ist man als Romanschreiber
sowieso ein armer Hund: Es dauert Jahre, bis man was fertig hat,
und in denen man sich täglich neu durchringen muß. Das
ist in Zeiten, wo sich in einem das Werk das man dann gebiert in
den Figuren erst formt besonders hart. Diese Figuren aber lassen
einen nicht mehr ruhen, die wollen auf die Welt kommen. Zweitens
aber weil ich mich eben zum Schriftstellersein durchgerungen habe,
was sollte ich also sonst tun? Möbel verkaufen? Drittens -
und das ist tagtäglich am schwersten zu leben - kommt es
nicht darauf an, wie der Erfolg ist oder was herauskommt, sondern
auf das beständige Anstreben des Guten und Richtigen, danach
werde ich einmal vor dem Richter bemessen. Ich habe nicht die
Gnade einer Bewahrtheit, wie sie bei manchen lokalen oder älteren
Künstlern durchaus noch anzutreffen ist. Ich bin mit den
Menschen verblutet, und genauso neurotisch wie alle. Deshalb
besteht meine Arbeit auch zum überwiegenden Teil in einem
distanzierenden Freikämpfen von Lüge und Selbstbetrug,
in einem immer weitergehenderen Wahrwerden, und das ist schon
verdammt schwer, denn man wird ja zu jeder Stunde regelrecht
überschwemmt mit Idiotie. Das ist aber die eigentliche
Berufung des Künstlers, ob er es heute noch zum Meisterwerk
bringen kann oder nicht, und ob das verstanden wird oder nicht.
*130618*