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Donnerstag, 6. Juni 2019

Der Donnerstag-Konzertabend

Anton Rubinstein - Portrait von Ilja Repin
Es ist kaum verständlich, daß Anton Grigorjewitsch Rubinstein (1829-1894) heute so völlig vergessen ist. Denn sein Einfluß auf die Musik Rußlands (Tschaikowski, vor allem aber Rachmaninow) und Europas ist kaum zu überschätzen. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß er als einer der ganz wenigen Komponisten seiner Zeit einen völlig anderen Weg als Richard Wagner einschlug - an den klassischen Formen mehr orientiert, nicht an der Musik als politischen Treibsatz der Gegenwart, wie Wagner, der seine Musik bewußt so verstand.

Um seinen Ruhm hat er schwer gekämpft, dabei blieb er immer bescheiden, hielt seinen Bruder für weit begabter und besser. Errungen hat er ihn nach vielen Rückschlägen vor allem durch seine Mammutkonzerte, die mindestens vier, fünf Stunden gedauert haben müssen, in denen er sich regelrecht durch die Musikgeschichte spielte.

Und eine Interpretationskunst am Klavier und als Dirigent entwickelte, die bestenfalls mit Friedrich Liszt (in der Nähe von Sopron/Ödenburg geboren) zu vergleichen gewesen sein soll, der damals ganz Europa mit seiner Musik paralysierte. Liszt förderte ihn auch, wo immer er konnte. Denn das Große kennt keinen Neid, es ist ja deshalb groß, weil es nur der Schönheit und Wahrheit dienen will und letztendlich kann, weil der Mensch sonst erstickt. Anderes lohnt doch nicht im Leben, wozu sollte man es sonst führen? Nur das Große (das oft so lange in Angst erstarrt, weil es nirgendwo dazugehört, als Mensch also im Nichts steht) zieht deshalb auch noch Größeres nach sich, oder mit sich nach oben. Das Mediokre, das Niedrige sucht immer noch Niedrigeres und haßt das Große.

Rubinstein spielte oft und hingebungsvoll in ganz Europa, ging ohne Rücksicht auf seine Gesundheit jedesmal an die Grenzen der körperlichen Kräfte, daß er einmal während eines Konzerts am Klavier ohnmächtig zusammengebrochen ist. Dabei wurde er immer kränker, ließ sein Herzleiden nicht behandeln, um nicht in seinem Seelenleben gestört zu werden.

Zeitlebens litt Rubinstein unter seiner Ortslosigkeit. Eigentlich war er in Breslau als Sohn jüdischer Eltern (deutsch-russisch) geboren worden, dann in Rußland aufgewachsen, erst in Wohlstand, dann nach dem Bankrott des Vaters in vieler Not, lange in Sankt Petersburg, dann oft und längere Zeit in Wien lebend, viel in Europa unterwegs, war er den Christen ein Jude, den Juden ein Christ, den Russen ein Deutscher, den Deutschen ein Russe, im Kollegenkreis den Klassikern ein Moderner, den Modernen ein antiquierter Klassiker. Er gehörte nirgendwo hin.

Auch als Komponist (und er sah sich eigentlich als solcher) war er ungemein produktiv. Siebzehn Opern, fünf Klavierkonzerte, sechs Symphonien, Kammermusik, zahllose weitere Werke - sie alle sind heute kaum noch gespielt, noch weniger einem Publikum vertraut, und entstanden neben seiner ausgedehnten Konzerttätigkeit. Sie auszugraben wäre die Mühe wohl wert. Rußland hat zur Wende des 19./20. Jahrhunderts Europas Kultur, die im Totalzusammenbruch war, durchgetragen und bewahrt. Die Kunst des Abendlandes, also die Kultur selbst, weil deren Quellen, haben in Rußland - auch im religiösen Kult - überlebt. Erst offen, dann unter der Oberfläche, heute wieder frei zugängig.

Höre der Leser zum Beweis Rubinsteins Klavierkonzert Nr. 1, in dem, wenn man genau hinhört, tatsächlich die Klavierkonzerte Rachmaninows regelrecht vorweggenommen sind. Während im Hintergrund Bach, der Barock, ja die gesamte europäische Musikgeschichte, vom Volkslied bis zu den großen Kompositeuren, zu hören ist. Sowohl formale Strenge wie auch gefühlvolle Ausgestaltung gehen hier Hand in Hand. Das Orchester, die Tschechoslowakische Philharmonie unter dem legendären Alfred Walter, spielt mit dem Pianisten, Joseph Banowetz, den Ball großartig hin und her, ein wunderbares Hörerlebnis!



 
Hören Sie, werter Leser, aber gleich danach sein zweites Klavierkonzert, es lohnt die weitere halbe Stunde. Denn anders als bei vielen anderen Komponisten ist es "völlig anders" als sein erstes. Es zeigt damit die Fülle an, die in Rubinstein angelegt war und die ein ganz langes Leben gebraucht hätte, um sich in einem Ganzwerk zu erschöpfen, wenn überhaupt.

Wo das Alles ist, ist das Eine für die "Menschen da draußen" nicht zu fassen. So ein Mensch, in dem Alles in einem ist, KANN gar keine "Gruppe" finden, der er zugehört. Denn er hat nie einer zugehört, sondern ... allen. Aber damit ... keiner. Wo sollte da ein Platz in der Welt für ihn sein?

Achten Sie allein die Sequenz bei min 24:30 - als wäre Rachmaninow (siehe unter anderem dessen erstes und zweites Klavierkonzert, aber fast noch mehr sein drittes, sowieso sein Höhepunkt) in ihm bereits enthalten gewesen, durch Rachmaninow nur noch ausgefaltet worden. So etwas nennt man Vaterschaft.




Um dann zu Rubinsteins Symphonien zu gelangen. Wo sich der Zuhörer mit Recht in Superlativen überschlagen darf. Übrigens - wer darin bereits Tschaikowsky hört, tut das zurecht. Wie klar aber überhaupt, wie weitsichtig, wie visionär (man beachte etwa die Sequenz rund um min 11, sie könnte von heute sein) ist doch diese Musik. Der zweite Satz nimmt regelrecht Dvořáks Symphonien vorweg. Achten Sie auf das Motiv, auf dessen Behandlung! Dvořák, was sonst. Dessen berühmt gewordene neunte Symphonie in compondo. Oder Smetana. Die Moldau. Bis zur Instrumentierung. Man achte auf die motiv-arbeitende Funktion des "Streicherteppichs".

Das findet sich höchstens noch in Bruckner, dort aber schon im Abklang, in der "Cluster-"Auflösung hin zu Wagner, den Bruckner so verehrte (Komponisten können eben nicht denken, sie sind Mathematiker; aber wer außer dem Schriftsteller kann denken?), als Leidens- und Todes- weil Chaosmotiv. Rubinstein hält das alles noch geordnet in der Hand. Kann man das begreifen?

Man denkt es freilich als geübter Musikhörer umgekehrt. Aber das ist nur, weil die Nachläufer - auch Dvořák, ist einer - bei uns bekannter wurden. Das Ganze, wirklich Visionäre, ist eben zu sehr voraus und abstrahierend-kompakt für Schweinsohren (wie es der Pianist, mit dem der VdZ einige Jahre zusammenarbeitete, immer nannte), also den durchschnittlichen Hörer. (Ned bös sein! Der VdZ liebt den "normalen" Hörer, gerade weil er ihn kennt.)

Wer keinen Ort in der Welt hat, hat nur das Jenseits, das ... Zukünftige, das Ewige. Rubinstein zeigt in seinen Symphonien, daß die Formen der abendländischen Kultur noch lange nicht ausgeschöpft sind (was deren Ende anzeigte, was unter anderem der Revolutionär Richard Wagner meinte), sondern die Inhalte, die Historie, die Zeitgemäßheit immer noch zu erfassen und zu tragen vermögen.

Es sind somit die Russen, an denen man noch heute europäischen Kulturoptimismus schöpfen kann, werte Leser. In deren Kunst hat sich das Abendland noch einmal komprimiert, und durch die historischen Unbill zu einem gewissen Grad in eine Konserve gepackt. Die man doch noch - auch in der orthodoxen Liturgie, diesem Anschauen unserer Kultur in ihrer Geburtskraft vor tausend Jahren - öffnen kann, um wenigstens das Aroma dessen zu erschnüffeln, das uns bis heute trägt, auch im Westen.








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