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Mittwoch, 5. September 2018

Alles Soziale ist auf ein Ganzes bezogen

Das Kastenwesen in Indien läßt sich, schreibt Louis M. Dumont in seinen zum Standardwerk gewordenen Buch "Gesellschaft in Indien", nur verstehen, wenn man begreift, daß es ein Gesamtsystem ist, auf das sich jede Einzelregelung der Hierarchie innerhalb der Bevölkerung bezieht. Diese Hierarchien haben zwar einerseits einen klaren religiösen Grundzug, der sich anhand der Kategorien als "rein" und "unrein" bezeichnen läßt und die Nähe oder den Bezug zum Himmel (salopp formuliert) ausdrückt, das also jede einzelne Stufe durchwirkt und als Grundkonstituierende der gesellschaftlichen Ordnung gesehen werden muß. 

Aber niemand denkt in Individualkategorien, sondern alles ist auf ein Ganzes bezogen, das sogenannte Jajmani. Innerhalb dieses Ganzen zählt der Gedanke, daß jeder je nach seinem Stand, seinem Platz in der Hierarchie, die sehr komplex und in vielen vielen Nuancen aufgebaut ist, auch Bedürfnisse hat, und das das Jajmani, das Gesamtsystem, jedem dieses Auskommen ermöglicht. Es ist unserem früheren Zunftsystem in vielem ähnlich, etwa weil es Konkurrenz verhindert, die ja immer zu Lasten des Schwachen geht, läßt man sie einfach frei walten.

Das Jajmani hat sehr viel mit Arbeitsteiligkeit zu tun, mit Abhängigkeitsbeziehungen und auch Macht, keine Frage. Aber der Abhängige kann sich immer auf ein alles durchwirkendes Solidaritätsempfinden berufen, in dem er davon ausgehen kann, daß sein Auskommen als Recht besteht und von allen mitgetragen wird. Der Arbeitgeber, der Übergeordnete (und das ist weit weniger starr vorzustellen, als man meinen könnte, und variiert häufig, so daß in einem Punkt dieser Vorgesetzter jenes sein kann, während es sich in einem anderen anders verhält) ist also nicht einfach ein Machthaber, sondern er ist weit mehr ein Verantwortlicher.

Vor jeder ökonomischen Beziehung aber steht die Ordnung als System persönlicher Beziehungen. Aus diesen Beziehungen ergeben sich dann Entlohnungsverhältnisse, die eigentlich fest geregelte Verhältnisse der Anteilhabe an den Früchten des anderen bedeuten. Sie bedeuten weitgehend den Tausch von Gütern (und Leistungen), wenn auch Geld immer schon eine Rolle spielte. Und manche Leistungen immer schon in Geld abgegolten wurden. Zum Beispiel die meisten priesterlichen Dienste. Interessanterweise, schreibt Dumont, gilt dies in den meisten Teilen Indiens auch für die fünf Berufe Goldschmied, Wagner, Maurer, Steinmetze, Schmiede und Kupferschmiede, die (man müßte sagen: weltweit) eine gewisse Nähe zur religiösen Handlung (und man könnte in gleichlautendem, mit dem Religiösen verschwimmenden Sinn erweitern: zur Kunst) haben.

Ein Aspekt soll noch herausgegriffen werden, weil er beim VdZ Erinnerungen weckt, die Ähnlichkeiten zwischen Ordnungen bei uns wie in Indien aufweisen. Es geht um die Tatsache, daß gewisse Funktionen für bestimmte Kasten und Stände unter ihrer Standeswürde sind. Zum Beispiel das Rasieren (zu dem auch das Nägelschneiden gehört), das die meisten Inder unrein machen würde. Also tut es der Barbier. Er weiß somit, daß auch er sein Auskommen hat, denn niemandem fiel es früher ein, das selbst zu machen. Der er an und für sich in den meisten Teilen Indiens somit wegen seiner unreinen Tätigkeit zwar an einer weit unteren Sprosse der Gesamthierarchie* steht, aber in anderen Bereichen weit oben rangiert. 

Es gilt als Richtmaß, daß jeder Mensch EINE Zuordnung zu einem Stand hat, die man grob gesprochen als "innerhalb einer unveränderbaren Kaste" ansehen kann. Und das hat so viel mit Beruf zu tun, daß man das Jajmani (bzw. der Abstufungen innerhalb einer Kaste ebenso wie das Gesellschaftssystem insgesamt) sogar als System der Arbeitsteiligkeit betrachten könnte. 

Oft aber sind diese Zuordnungen durch Tätigkeiten ergänzt, die als Grundordnungsstufe ganz woanders agieren würden. Die Realität ist also sehr komplex, und hat zudem immer eine gewisse regionale, geographische Ausprägung - jedes Dorf, jede Region (und damit jede Provinz) ist selbst wieder eine solche Ordnung als Ganzes.

So hat der Barbier das Recht, Hochzeits- und Geburtsnachrichten zu verbreiten, was wohl auch mit Begleitumständen seiner Funktion zu tun hat. Und wer eine Hochzeit verkünden will, läßt es vom Barbier geschehen. Auch das, übrigens gibt es sogar noch heute: Der "Hochzeiter" geht auch heute noch in vielen Landregionen Österreichs per Auftrag (und Entlohnung, oft in Naturalien) und überbringt die Nachricht oder die Einladung.

Dumonts ethno-soziale Studie scheint sich also zwar nur auf Indien zu beziehen. Aber er schärft auch den Blick für die unsere Gesellschaften subtil durchwirkenden, den indischen oft sehr ähnlichen Strukturen und Ordnungen. Die einen mit Ehrfurcht vor diesen feinen zwischenmenschlichen Abstufungen erfüllen, mit denen wir es auch heute noch zu tun haben. Die im letzten auch bei uns auf religiöse Ordnungen zurückgehen. Sich vor allem aber auf ein Ganzes beziehen, das umso fundamentaler wirkt, als wie beim Auge das Natürlichste, Gesündeste auch das am letzten Sichtbare ist - wenn alles zerrissen ist, ist es für das Ganze zu spät. Nur wenn das Auge krank ist, sieht es sich selbst.



*Aber immer noch vor dem Beruf des Schauspielers kommt, der wirklich ganz unten steht.





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