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Samstag, 29. September 2018

Die Lage in Polen und Ungarn ist komplizierter

Nun hat also Mercedes mit der ungarischen Regierung einen Pakt geschlossen, in Debrecin im Osten Ungarns ein Werk zu errichten. 150.000 Fahrzeuge sollen dort jährlich die Fließbänder verlassen, die so weit schon automatisiert sein werden, daß insgesamt nur 1.000 Arbeitsplätze entstehen! Und die verlangen hohe Qualifikation. Wie die erreicht werden soll, ist derzeit noch nicht klar. Wie man hört wird nun in aller Eile an der Universität von Debrecen ein Technik-Lehrstuhl eingerichtet, um entsprechendes Personal auszubilden. Und damit in eine Aporie stößt. Denn Mercedes kommt so wie Toyota, Nissan oder Audi wegen der niedrigen Löhne nach Ungarn. Gleichzeitig sind niedrige Löhne ein schweres Problem für den gesamten Raum der ehemaligen Ostblockstaaten. 

Polen - die vielleicht dynamischste Volkswirtschaft in Mittel- und Osteuropa - hat derzeit bereits zwei Millionen Arbeiter im Niedrigstlohnsektor, und man schätzt, daß bis 2030 diese Schichte auf vier Millionen anwachsen wird. Gleichzeitig ist noch niemandem klar, was diese Menschen dann arbeiten sollen. Denn gebraucht, gebraucht werden ganz andere Leute. Aber die gibt es nicht in ausreichender Menge.

Aber Polen hat - und darüber wurde im Westen bislang noch gar nicht berichtet - in den letzten Jahren über 1,5 Millionen Ukrainer ins Land geholt bzw. ins Land gelassen. (Wenn das auch historische Zusammenhänge hat, denn die Polen sehen die noch dazu weitgehend katholischen Westukrainer, die Ruthenen speziell, nach wie vor als "Polen".) Alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2018 haben über 130.000 Ukrainer eine Arbeitsbewilligung in Polen erhalten. Diese sollen vor allem den enormen Abwanderungszug gut Ausgebildeter* - die alle in den Westen wollen - auffangen. Mit geringem Erfolg. Die Ukrainer sind eben nicht die dringend benötigten IT- und Technikfachleute, die Polen genauso bräuchte wie Ungarn. Und das Ausbildungsniveau zu heben ist eben doch nicht so einfach.

Polen hat deshalb sogar jüngst einen weiteren Schritt unternommen, der das Problem seiner angeblichen "Ausländerfeindlichkeit" in ein ziemlich anderes Licht taucht. Es hat ein Abkommen mit der Regierung der Philippinen unterzeichnet, demgemäß es Philippinen zukünftig deutlich erleichtert werden wird, nach Polen auszuwandern. Warum das? Denn die Philippinen sind nun auch nicht gerade das Land der Facharbeiter und Unternehmer, die Polen bräuchte. Das Argument ist einfach: Man sagt, daß die Philippinen wie die Polen katholisch sind. Damit ist der kulturelle Rahmen weitgehend gleich. 

Den Philippinen fehlt es damit nur an Ausbildung, und die ist nachholbar. Ihr Wertehorizont, ihre Art zu leben ist aber grundsätzlich denen der Polen weitgehend gleich. Sie können damit relativ problemlos integriert werden. Zumal Polen wie alle übrigen Länder des ehemaligen Ostblocks, ja wie ganz Europa, vor ähnlichen demographischen Problemen steht - nach wie vor gibt es bei weitem zu wenige Geburten, und die längst fehlenden Geburten sind sowieso nicht kurzfristig, auch nicht mittelfristig zu ersetzen. Auch die Abwanderungsbereitschaft wird nicht so hoch sein.**

Wie es bei Einheimischen ist, die oft nur deshalb alles tun, um sich zu qualifizieren, weil sie sich "für den Westen" schmücken wollen. Ungarn kann davon ein trauriges Lied singen. Und erlebt seit Jahren das Phänomen, daß es "sich von Ost nach West" verlagert. Westungarn ziehen nämlich in rekordverdächtiger Zahl nach Österreich und Deutschland. Der VdZ kennt aus seiner Zeit in Sopron selbst nicht wenige junge Leute, die nur mit einem Ziel studieren: Nach dem Abschluß nach Wien oder München oder Berlin zu gehen. Viele sind ständig "am Sprung", ob sie nicht in Österreich Arbeit finden. Und sehr viele arbeiten bereits dort. 

Das läßt im Westen Ungarns einen Arbeitskräftemangel entstehen, den nun Zuzüglinge aus dem Osten auffüllen. Aber nicht nur aus Ostungarn, sondern auch aus der Ukraine, die wiederum in den Osten Ungarns nachströmen. Schon heute stammt ein guter Teil der Handwerker im Westen Ungarns aus Ostungarn. Und dort - aus der Ukraine. Und alle erleben die immer noch geringen Löhne, weshalb letztlich "alle" nach dem westlichen Ausland wollen. Aber insgesamt wirkt diese Sogwirkung auf Ukrainer negativ aufs Lohnniveau. Der Weg "nach oben", von dem alle träumen, wird noch schwieriger. Und es ist besorgniserregend weil es ein Unverständnis von Grundverhältnissen andeutet, wenn eine Regierung - FIDESZ, Organ, die mit den niedrigen Löhnen in Ungarn locken - wie allgemeiner Wohlstand, eine prosperierende Wirtschaft aufgebaut werden soll auf der Grundlage niedriger Löhne! Es sind immer die allgemeinen Löhne, die eine Volkswirtschaft prosperieren lassen. Oder nicht.

Diese eigentümliche Konstellation, in der sich auch ein Unverständnis der Regierung Ungarns zeigt, die von manchen ohnehin als Freundeskreis von Oligarchen angesehen wird, die also genau davon profitieren, treibt die Preise in Westungarn nach oben. Generell, weil die Preise für Importwaren weit über den für dieselben Produkte im Westen liegen, aber vor allem im Immobiliensektor. Denn diese Leute brauchen Wohnungen, wollen aber nicht dort leben, wohin sie ziehen, sondern sehen das als Durchgangsstation. Sie wollen aber keine Wohnungen, sie wollen "Unterkünfte". Das erzeugt eine ähnliche Situation wie sie in Wien in den 1970ern zu beobachten war: Selbst für sanierungsbedürftige Häuser in oft erbärmlichem Zustand wurden immer höhere Mieten verlangt. Waren es in Wien die hunderttausenden "Tschuschen" - Gastarbeiter aus dem Balkan, die nicht in Wien leben, sondern nur möglichst viel verdienen wollten - die Wien noch in den 1970ern zu einer "Vorstadt des Balkan" machten, so passiert 

Ähnlich ist es jetzt in Westungarn. Wo auch neue Bevölkerungsschichten auftreten. Viele Ostungarn, aber nicht zuletzt viele Zigeuner. Die sich hier neue Lebensfelder sehen, also gar nicht so sehr in den Westen wollen, und denen diese Vorläufigkeit offenbar besonders entgegenkommt, in die der Westen Ungarns zunehmend getaucht ist. Was die ansässige Wirtschaft vor gehörige Probleme stellt. Produziert wird nach wie vor sehr wenig in Ungarn, der Anteil an Importware für den Alltag ist enorm.

Oder - getaucht wäre. Würde derzeit nicht mit viel EU-Geld an den Strukturen herumverbessert. Wobei die Hoffnung vor allem im Tourismus liegt. Also im Aufmöbeln von und Spekulieren auf ... geschichtliche Substanz.

Ja, es stimmt, "Migranten" aus Afrika oder der Levante, wie sie Westeuropa zeichnen, sieht man in Ungarn kaum. Aber dennoch hat Ungarn ein gewaltiges Entwurzelungsproblem. Nur hat es andere Faktoren.



*Es ist ja bekannt und Gegenstand zahlreicher Witze: Alleine die zwei Millionen Polen in England stellen heute dort den gesamten Handwerkerbereich. Wer in London einen Installateur oder einen Tischler braucht, findet fast nur Polen.

**Jedenfalls müßte man über die angebliche "Ausländerfeindlichkeit der Polen" anders nachdenken, als das bisher geschah. Als ethnisch-rassischen Vorwurf kann man es jedenfalls nicht gelten lassen. Polen sieht sich aus demographischen Gründen alleine schon lange als Einwanderungsland. Es will nur darauf achten, WER einwandert.





*080818*