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Montag, 24. September 2018

Vom Umsturz durch Musik (2)

Teil 2)



Der Mensch ist an sich auf Schönheit ausgerichtet, er braucht und sucht sie. Sie ist die unmittelbare Kraft, die ihn auf Ordnung und Sinn hinweist und entsprechend formt. Somit ist sie auch eine, wenn nicht die erste, vornehmste kulturbestimmende Kraft (wenn man auch Architektur als Musik begreift). Findet der Mensch diese Schönheit nicht mehr in der Kunst, in der Liturgie (und darauf läuft es hinaus), so sucht er sie woanders. 

Und er sucht sie in Ersatzformen, sprich: in Wirkungen, die denen der Wirkung der Schönheit ähneln. In Erschütterung, in Rhythmus, in selbst evozierten Gefühlen. Wie sie der Jazz bedeutet, der ebenfalls die Ordnung aufbricht und als Quelle der Musik den Musiker selbst sieht, ebenso wie den Hörer, von dem bedingungslose Auslieferung verlangt wird.  Und wie sie die Rockmusik bedeutet. Niemand wußte um die revolutionäre Kraft von Musik besser als die Rockmusiker selber! Die die Crux erlebten, daß ihre Intentionen durch die eine immer größere Rolle spielende Elektronik (heute: Digitalisierung) eine ungeahnte weitere Dimension der Entfesselung wie auch der Breitenwirkung (Schallplatte, Radio, Tonband, Fernsehen, bis zum Digitalspieler*) erfuhr.

Was sich dann vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts abspielte, war wie in allen Bereichen, nicht nur in der Musik, aber stark von ihr ausgehend, eine Ausfaltung dieser philosophischen Schlüsse, die so nebenbei auf einer völlig neuen (von Evolution und Darwinismus geprägten) Anthropologie aufbaute. Das Bild von dem, was der Mensch war, hat sich vollständig geändert, wir sehen es heute in aller Macht.**

Und in der Postmoderne eines Michel Foucault ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Der ebenfalls aus persönlicher Erfahrung - Foucault war nicht nur homosexuell (und schon damit gesellschaftlicher Außenseiter, ein Mann "außerhalb des logos" also), sondern lebte seine Neigung in San Franzisco, wo er Vorlesungen hielt, in dessen Möglichkeiten extrem aus, bis er an seinen Exzessen krepierte. Für ihn (bzw. die Postmoderne) war Wissen (Nietzsche!) eine Angelegenheit der Macht und damit der herrschenden Klasse. Und damit der bestehenden Ordnung. Nur die dionysisch-befreite Sexualität vermag diese Banden aufzubrechen und die Menschen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung zu Wissen über die Welt gelangen. Dazu müssen sämtliche Denkmodelle aufgebrochen werden, denn in ihnen manifestiert sich lediglich die Macht derjenigen, die die kulturelle Ordnung beherrschen.

Ein Instrument dazu, wenn nicht das wesentliche Instrument dazu, war die Musik, die im 20. Jahrhundert aufkam und durch neue Medien und Technik rasch populär werden konnte. Die Sehnsucht der Menschen nach Schönheit war nach dem Abdanken der klassischen Musik, in der Schönheit noch der wesentliche Inhalt von Kunst war, um die sich jede Musikdramaturgie abspielte, um die der dramaturgische Aufbau in Oper, Symphonie, jedem Kunstwerk rang, ehe sie sich in der Katharsis (dem Freilegen der Schönheit) zu neuem Menschsein erhebt, unbefriedigt geblieben. 

Umso mehr stürzten sie sich auf die neuen Formen der Musik, wie sie eben aus den ausgeführten Impulsen, diesem Paradigmenwechsel, ja diesem Umsturz (Nietzsche, "Umwertung aller Werte") in der Musik, aufkamen. So wurden aber die Grundfesten unserer abendländischen Kultur buchstäblich erschüttert. Die Rolle der Musik in diesem Kulturumwälzungsprozeß, wie wir ihn seit 50 Jahren definitiv erleben, ist gar nicht zu überschätzen. Denn es war immer die Kunst, und noch mehr der Kult (als Quelle aller Kunst), die gesellschaftliche Haltungen und Stimmungen bewirkte, die sich dann in allen kulturellen Bereichen, bis hin zur Arbeit, ihre Realisierung suchte.







*In der Digitalisierung erfuhr diese dargestellte Wirkgeschichte der Musik im 20. Jahrhundert noch eine Wirkdimension zusätzlich. Denn die Digitalisierung ist bereits eine Reduktion der Musik von ihr weg hin zur reinen Wirkgeschichte. Der Programmierer geht nicht von der Musik selbst aus, diese ist nur noch abbildhaft (im Hörbild) vorhanden, sondern von der Wirkung, der entsprechend er sie programmiert. Das Digitale erzeugt also Wirkungen, keine Musik mehr. Oder wenn, dann eine eigene Musik, die mit der Ursprungsmusik nur noch einen rationalen Zusammenhang hat. Zur Illustration: Auf der Schallplatte ist noch eine direkte Wirkung der Ursprungsmusik in physischer Übertragung weil Präsenz - die Plattenprägung wird von den Schallwellen der Musik selbst hervorgerufen - enthalten. Wer das einmal erkannt hat, wird nie mehr digitalisierte Musik wollen, die nur "Bericht liefert, wie diese Musik ist", sie aber nicht mehr selber, sondern eine Interpretation des Programmierers ist. (Siehe unter anderem die Medienkritikansätze von Friedrich Kittler.)

**Es ist ein schweres Versäumnis, weithin zu beobachten, daß in vielen Diskussionen über Zeiterscheinungen ausgeklammert wird, daß diese Diskussionen sinnlos geworden sind, weil die Frage "Was ist der Mensch?" in zwei unvereinbaren Extremen gespalten ist und somit eine dialogische Klärung unmöglich ist. Das geht bis hinein in Fragen der Wirtschaft.