Teil 2)
Der
Mensch ist an sich auf Schönheit ausgerichtet, er braucht und sucht
sie. Sie ist die unmittelbare Kraft, die ihn auf Ordnung und Sinn
hinweist und entsprechend formt. Somit ist sie auch eine, wenn nicht die
erste, vornehmste kulturbestimmende Kraft (wenn man auch Architektur
als Musik begreift). Findet der Mensch diese Schönheit nicht mehr in der
Kunst, in der Liturgie (und darauf läuft es hinaus), so sucht er sie
woanders.
Und
er sucht sie in Ersatzformen, sprich: in Wirkungen, die denen der
Wirkung der Schönheit ähneln. In Erschütterung, in Rhythmus, in selbst
evozierten Gefühlen. Wie sie der Jazz bedeutet, der ebenfalls die
Ordnung aufbricht und als Quelle der Musik den Musiker selbst sieht,
ebenso wie den Hörer, von dem bedingungslose Auslieferung verlangt
wird. Und wie sie die Rockmusik bedeutet. Niemand wußte um die
revolutionäre Kraft von Musik besser als die Rockmusiker selber! Die die
Crux erlebten, daß ihre Intentionen durch die eine immer größere Rolle
spielende Elektronik (heute: Digitalisierung) eine ungeahnte weitere
Dimension der Entfesselung wie auch der Breitenwirkung (Schallplatte,
Radio, Tonband, Fernsehen, bis zum Digitalspieler*) erfuhr.
Was
sich dann vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts abspielte, war
wie in allen Bereichen, nicht nur in der Musik, aber stark von ihr
ausgehend, eine Ausfaltung dieser philosophischen Schlüsse, die so
nebenbei auf einer völlig neuen (von Evolution und Darwinismus
geprägten) Anthropologie aufbaute. Das Bild von dem, was der Mensch war,
hat sich vollständig geändert, wir sehen es heute in aller Macht.**
Und
in der Postmoderne eines Michel Foucault ihren vorläufigen Höhepunkt
fand. Der ebenfalls aus persönlicher Erfahrung - Foucault war nicht nur
homosexuell (und schon damit gesellschaftlicher Außenseiter, ein Mann
"außerhalb des logos" also), sondern lebte seine Neigung in San
Franzisco, wo er Vorlesungen hielt, in dessen Möglichkeiten extrem aus,
bis er an seinen Exzessen krepierte. Für ihn (bzw. die Postmoderne) war
Wissen (Nietzsche!) eine Angelegenheit der Macht und damit der
herrschenden Klasse. Und damit der bestehenden Ordnung. Nur die
dionysisch-befreite Sexualität vermag diese Banden aufzubrechen und die
Menschen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung zu Wissen über die
Welt gelangen. Dazu müssen sämtliche Denkmodelle aufgebrochen werden,
denn in ihnen manifestiert sich lediglich die Macht derjenigen, die die
kulturelle Ordnung beherrschen.
Ein
Instrument dazu, wenn nicht das wesentliche Instrument dazu, war die
Musik, die im 20. Jahrhundert aufkam und durch neue Medien und Technik
rasch populär werden konnte. Die Sehnsucht der Menschen nach Schönheit
war nach dem Abdanken der klassischen Musik, in der Schönheit noch der
wesentliche Inhalt von Kunst war, um die sich jede Musikdramaturgie
abspielte, um die der dramaturgische Aufbau in Oper, Symphonie, jedem
Kunstwerk rang, ehe sie sich in der Katharsis (dem Freilegen der
Schönheit) zu neuem Menschsein erhebt, unbefriedigt geblieben.
Umso
mehr stürzten sie sich auf die neuen Formen der Musik, wie sie eben aus
den ausgeführten Impulsen, diesem Paradigmenwechsel, ja diesem Umsturz
(Nietzsche, "Umwertung aller Werte") in der Musik, aufkamen. So wurden
aber die Grundfesten unserer abendländischen Kultur buchstäblich
erschüttert. Die Rolle der Musik in diesem Kulturumwälzungsprozeß, wie
wir ihn seit 50 Jahren definitiv erleben, ist gar nicht zu überschätzen.
Denn es war immer die Kunst, und noch mehr der Kult (als Quelle aller
Kunst), die gesellschaftliche Haltungen und Stimmungen bewirkte, die
sich dann in allen kulturellen Bereichen, bis hin zur Arbeit, ihre
Realisierung suchte.
*In
der Digitalisierung erfuhr diese dargestellte Wirkgeschichte der Musik
im 20. Jahrhundert noch eine Wirkdimension zusätzlich. Denn die
Digitalisierung ist bereits eine Reduktion der Musik von ihr weg hin zur
reinen Wirkgeschichte. Der Programmierer geht nicht von der Musik
selbst aus, diese ist nur noch abbildhaft (im Hörbild) vorhanden,
sondern von der Wirkung, der entsprechend er sie programmiert. Das
Digitale erzeugt also Wirkungen, keine Musik mehr. Oder wenn, dann eine
eigene Musik, die mit der Ursprungsmusik nur noch einen rationalen
Zusammenhang hat. Zur Illustration: Auf der Schallplatte ist noch eine
direkte Wirkung der Ursprungsmusik in physischer Übertragung weil Präsenz
- die Plattenprägung wird von den Schallwellen der Musik selbst
hervorgerufen - enthalten. Wer das einmal erkannt hat, wird nie mehr
digitalisierte Musik wollen, die nur "Bericht liefert, wie diese Musik ist",
sie aber nicht mehr selber, sondern eine Interpretation des
Programmierers ist. (Siehe unter anderem die Medienkritikansätze von
Friedrich Kittler.)
**Es
ist ein schweres Versäumnis, weithin zu beobachten, daß in vielen
Diskussionen über Zeiterscheinungen ausgeklammert wird, daß diese
Diskussionen sinnlos geworden sind, weil die Frage "Was ist der Mensch?"
in zwei unvereinbaren Extremen gespalten ist und somit eine dialogische
Klärung unmöglich ist. Das geht bis hinein in Fragen der Wirtschaft.