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Dienstag, 14. September 2021

Hält Przemysl? (5)

Armageddon 1, 2, 3 und 4. Als das Ende der Welt kam. - Die Folge des gescheiterten Ausbruchsversuchs war kaum noch beschreibbar. Verzweiflung, Panik überall in der Stadt und in den Festungsgräben. Am Abend des nächsten Tages, dem 19. März 1915, bat Generalleutnant Kusmanek die fünf Hauptbefehlshabenden zu einem letzten Konsilium. Daß Przemysl nicht mehr gehalten werden konnte, war nicht mehr zu leugnen. Die Lebensmittel waren (bis auf eine allerletzte Notration) aufgebraucht, die Moral der Soldaten kaum noch beschreibbar am Boden. Nervenzusammenbrüche, Panikattacken, völlige Entkräftung und Apathie, Wein- und Schreikrämpfe, apokalyptische Phantasien die die Runde machten, es war eine Stimmung wie unmittelbar vor dem Jüngsten Tag. 

Die Soldaten waren dermaßen entkräftet, erschöpft, nervlich am Ende, daß auch nicht ein einziger Angriff der Russen noch abgewehrt werden hätte können. Umgekehrt waren sie so hysterisch, daß "gespenstische Schatten" gesehen wurden, wo bei Nachsicht nur eine russische Zwei-Mann-Patrouille erkennbar war. Wegen eines solchen Gespenstes aber begann an einem Abschnitt ein ganzes Regiment derartig panisch ins Niemandsland zwischen den Fronten zu schießen, daß die Russen glaubten, es handele sich um einen nächsten Ausbruchsversuch, und ihre Truppen in Alarm versetzten. 

Ja, man war am Ende. Rien ne va plus.

Aber wer dachte, das wäre also nun der Tiefpunkt, der hatte sich getäuscht. Was nun kam, sollte alles übertreffen, was jeder der in Przemysl Eingeschlossenen sich auch nur in den schlimmsten Träumen hätte vorstellen können.

Vorerst beratschlagten die sechs Offiziere freilich, was zu tun wäre. Der ungarische General Tamás war dabei sogar der Meinung, daß man zwar die Festungsanlagen im Ring aufgeben, sich aber dann ganz und mit allem auf die Stadt zurückziehen solle. Um dort, in einem wahrlich apokalyptischen Szenario der Selbstopferung, jedes Haus, jeden Keller, jeden Meter so lange zu verteidigen, bis kein Soldat mehr am Leben oder kampffähig war. 

Denn wenn es dazu beitrug zu verhindern, daß die Russen sich den Karpaten zuwenden, diese überwinden und Budapest einnehmen würden, war es jedes Opfer wert. Das lehnten die übrigen Kommandeure aber ab. Dennoch, man war sich einig: Die Russen sollten nur noch Ruinen vorfinden. Alles, was ihnen auch nur irgendwie nützlich sein konnte, mußte vernichtet werden, ehe man sich ergab.

Anhand der Listen über die allerletzte Reserve wurden zuerst einmal für fünf Tage reichende Notrationen inventiert: Eine Büchse Pferdefleisch und eine halbe Büchse Brot pro Tag und Mann. Rechnete man ein, daß die Russen die ersten zwei Gefangenschaftstage unmittelbar nach der Übergabe der Festung vielleicht dafür brauchen würden, Lebensmittel für die Kapitulierenden heranzuschaffen, so stellte man zwei Rationen als Reserve zurück. Daraus ergab sich also der 22. März als Tag der Übergabe. So viel Zeit hatte man noch, um alles zu zerstören und zu beseitigen, was für die Russen auch nur irgendwie von Wert sein könnte. Einschließlich sämtlicher Festungsbauten, Bunker und Grabensysteme.  

Die meisten Anlagen militärischer Art, aber auch zivile Brücken oder Bahnanlagen - denn die Bahn war für die Russen von allergrößtem Wert, die Linie durchquerte ganz Galizien von Nordost nach Südwest, also von Rußland bis zur Frünt in den Karpaten - mußten gesprengt, alle Waffen vernichtet, jeder Schuß Munition verschossen, im San versenkt, in den Gräben in den Schlamm des auftauenden Bodens getreten oder sonstwie unbrauchbar gemacht werden. Auch die letzten 400 Pferde sollten noch geschlachtet werden. 

Die Vorbereitungen liefen bald auf Hochtouren. Eigenartigerweise kam kein Infanterieangriff der Russen, wie man erwartet hatte, nicht am 19. und nicht am 20. Dafür begann am 20. etwas anderes: Ein Bombardement aus allen Rohren der 143 Kanonen, die die Russen im Laufe der Belagerung von mittlerweile fünf Monaten von überall her zusammengeholt hatten, darunter wahre Belagerungskaliber aus der Festung Kronstadt. 

Sie verfügten nun schon über die doppelte Anzahl an Kanonen wie die in Przemysl, mit denen sie den eingeschlosenen Raum zur Hölle machten. Den ganzen Tag über schlugen die Granaten ein, ununterbrochen krachten die Detonationen, kein Platz schien noch unversehrt, jeder Schritt ins Freie war lebensgefährlich, der Lärm über zwölf, vierzehn Stunden nicht mehr zu übertreffen. (Und Lärm mach ortslos, und damit kriecht die Todesangst noch massiver an den Menschen hoch. In allen frommen Visionen wird deshalb die Hölle als extrem "laut" beschrieben.)

Dachte man. Aber es war nur eine weitere Vorstunde des Jüngsten Tages. Denn das wirkliche Armageddon kam erst. Es setzte in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages, des 21. März, ein. Und es kam von österreichisch-ungarischer Seite. Aus allen Rohren feuernd, verschossen die Kanoniere alles an Munition, was sie noch hatten, um abschließend die Kanonen selbst zu zerstören. Nicht einmal in den härtesten Tagen der russischen Attacken, als es um Leben und Tod ging, waren dermaßen viele Granaten abgefeuert worden. Hier ging es bis in die tiefe Nacht hinten, jede Sekunde schien es zu krachen. 

Somit liefen die Vernichtungsarbeiten in einer interessanten Reihenfolge - vom Feinsten zum Gröbsten, vom Geistigen zum Elementaren. In umgekehrter Reihenfolge zur Entstehung, aber in der richtigen Reihe der ontologischen Ordnung, in der die Idee, das Ideelle den Vorrang hat. Berge von Akten und Papieren, Landkarten, Anweisungen und Formularen wurden in die Höfe und Straßen gebracht, aufgeschüttet und angezündet. Jeder Soldat, aber auch jeder Bürger mußte sogar seine privaten Aufzeichnungen abgeben und vernichten lassen. Nichts, wirklich nichts, das den Russen nützen konnte sollte bei der Kapitulation übrig geblieben sein.

Sogar das Geld wurde vernichtet, es hatte ja Wert, es hätte also den Russen gedient. Jeder Soldat bekam noch zwei Monate Sold im Voraus, denn vielleicht konnte er es später brauchen, dann wurde der Rest der Garnisonskassa - 6,7 Millionen Kronen - ebenfalls ein Raub der Flammen. Auch am Vormittag wurden alle Funkanlagen zerstört. Ab dem frühen 21. März 1915 konnte Przemysl also weder senden noch empfangen. 

Wie ein Regen, so eine der wenigen zivilen Zeugenschilderungen von später, prasselte ein die in perfektem Sekundentakt höllernden Kanonenschüsse unterlegendes Hintergrundgeräusch. Es waren die Maschinengewehre und zehntausende Soldaten, die alles was an Munition noch vorhanden war, verschossen. 

Alles zusammen fügte sich zu einer wahren Götterdämmerung. Die Erde bebte ohne Unterbrechung. Die Häuser wackelten und schwankten, manchmal hob sich die Erde an einer Stelle meterhoch, als bräche ein Vulkan aus. Der Lärm steigerte sich zu einer derartigen Infernalität - und es gab kein Entkommen! - daß gar nicht mehr gezählt wurde, wie viele Menschen aus Angst (!) starben, weil ihr Herz versagte, ihr Gehirn aussetzte. Und es waren viele. Von psychischen Kollapsen und Nervenzusammenbrüchen sowieso nicht zu reden, alles schrie, brüllte, weinte, gellte wie irr. 

Um drei Uhr in der Nacht zum 22. März verstummte aber mit einem Mal das Inferno. Die Kanonen waren ausgeschossen, die Granaten explodiert, die Munition verschossen, die Kanonen gesprengt. Selbst die Gewehrverschlüsse der Infanteriewaffen und die Säbel der Honved waren zerstört. Für eine Viertelstunde war es nun mucksmäuschenstill. Nur die Flammen, die an allen Ecken und Enden hoch lohenden, nach wie vor und dutzende Meter hohen Flammen waren zu hören. Es war gespenstisch. Schon aber wagten sich die ersten Menschen wieder aufzurichten, gingen auf die Straßen. Jetzt, jetzt aber wirklich, brach buchstäblich die Hölle los.

Denn in gigantischen Explosionen, eine nach der anderen, und jede so stark, daß alle meinten, die Welt gehe unter, wurde mit allem, was an Sprengstoff noch da war, die Anlagen gesprengt. Die Erde hob sich stellenweise von den Schockwellen meterhoch. Die Piloten der letzten beiden Maschinen, die noch da waren und alles nun von der Luft aus überwachen sollten, erzählten, daß es wie ein gleichzeitiger Ausbruch eines Vulkans und eines verheerenden Erdbebens wirkte. 

Die Bevölkerung irrte panisch, mit weit aufgerissenen Augen durch die Stadt und die Gegend. Man hatte sie nicht einmal vor dem, was jetzt auf sie zukam, gewarnt, geschweige denn vorbereitet. Suchten die Leute in den Häusern Schutz bestand Gefahr, daß sie verschüttet wurden, denn Staub einfallender Mauern, abplatzenden Putzes, und mal trieben Polizisten die Menschen in die Häuser, mal holten sie sie heraus, es herrschte unsagbares Chaos. Rauch aus Feuern war überall. Decken stürzten ein, Böden hoben sich, Dächer flogen davon, Kamine brachen ein, kein Haus war sicher und wankte nicht unter den Explosionswellen verschont. 

Aber auch auf den Straßen war das Risiko nicht geringer. Überall flogen Trümmer, Teile, Ziegelbrocken, Steine herum, peitschten Druckwellen in wildem Stakkato durch die Straßen, war der Lärm noch irrwitziger, und in der Nacht war ohnehin sonst keinen Meter weit zu sehen. Feuer erhellten die Szene. Es schoß in riesigen Fontainen hoch, der Lava gleich, brach brüllend in die Lüfte, untermalt im Hintergrund von der bizarr wirkenden galizischen Landschaft, in der wie zur Bekräftigung des Ortes als Inferno in langen Linien weitere Brände zu sehen waren. Denn die Soldaten hatten Benzin und Öl in die Gräben und Verhaue gegossen, die die Bunker verbanden und die Böden in großen Systemen durchzogen, und dann angezündet. 

Dennoch, die Endstufe war noch nicht erreicht. Es war etwa um sechs Uhr, und allmählich schien es ruhig zu werden. Ganz sanft näherte sich bereits die Morgendämmerung, und mancher dachte sicher schon an die Stille des Friedens. Da erhob sich wie in einem finalen Maximal-Crescendo eine Explosion, die Przemysl erschütterte als öffnete sich endgültig der große Schlund der Unterwelt, um alles zu verschlingen. So stark, so unsagbar mächtig war die Explosionskakophonie, die nun anhob, wie es sich vermutlich kein Mensch, ja nicht einmal das perverseste Regisseursgehirn je ausmalen könnte. 

In gigantischen koordinierten Stößen aus Massen von Sprengstoff wurden die Hauptbrücken über den San gesprengt, während an anderer Stelle das Hauptmunitionslager in die Luft flog.

Einer der Flieger, der schwor, daß seine Schilderung wahr ist, erzählte später, daß er das an die furchtbarste Hölle erinnernde Geschehen unter ihm in 300 Meter Höhe gesehen und überflogen hatte. Beinahe hätte ihn ein dutzendes Meter langes und wohl dutzende Tonnen schweres Stahl-Pontonsegment der großen Eisenbahnbrücke getroffen, das diese unsagbare Explosion bis auf diese Höhe geschleudert hatte. 

Sein Kamerad, der Kilometer entfernt in 100 Metern Höhe flog, wäre durch die Druckwellen der Explosionen beinahe abgestürzt. Es war ein Symbol, zu dem es nur einen Vergleich gab: Das Reißen des Tempelvorhangs.

Nun war Przemysl zerrissen, endgültig. Denn der San, der alles aufgenommen hatte, das nicht brannte oder sonstwie nicht zu zerstören war, teilte das Gebiet in zwei Hälften, die nun nicht mehr verbunden waren. Es wirkte alles so endgültig wie am Jüngsten Tag.

Es war sieben Uhr, als an diesem 22. März 1915 alles zu Ende war. Ruhe breitete sich über Ort und Landschaft aus. Nach und nach zeigten sich während der folgenden Stunden weiße Fahnen über den Gräben und an Häusern. Die Soldaten vernichteten die letzten Kriegsgüter und persönlichen Waffen, erschossen die letzten Pferde. Überall saßen und lagen sie herum, manche schliefen, und die meisten waren nun ruhig und friedlich. Eine allgemeine Erleichterung war zu spüren, sie waren einfach froh, daß es vorbei war. Erst nach und nach ließen sich Russen sehen.

General Kusmanek war aber schon um sieben Uhr aufgebrochen. Mit zwei hohen Offizieren als Assistenten brach er auf der Straße nach Osten auf. Als sie die russischen Linien durchquerten, um das Hauptquartier zu suchen, empfing sie der russische General Seliwanow betont kühl. Er war seit Oktober an der Belagerung beteiligt, betonte er. Aber was hier nun geschehen war sprengte jeden Rahmen. Es war ein reiner Akt barbarischer Zerstörung, dessen Zeuge er hier geworden war. Es gab nichts mehr zu verhandeln, brüllte er die Österreicher an. Hier gab es nur noch die bedingungslose Kapitulation! 

Es waren die beiden Offiziere, die vorsichtig versuchten, positivere Stimmung zu erzielen. Und tatsächlich gelang es ihnen, kleine, aber für die Saga um Przemysl, für den Ruf des nun beendeten Kampfes in der Monarchie sehr wichtige Verhandlungserfolge zu erzielen: Als ein Zeichen der Ehrerbietung angesichts des langen Widerstands der Festung durften die Offiziere ihre Säbel (so sie noch welche hatten) behalten. Eine kleine Geste, gewiß, aber von immenser Bedeutung. Denn so konnte der Widerstand von Przemysl in der ganzen Monarchie als tragische Heldengeschichte verkauft werden. In der jeder der 117.000 Soldaten, 2.500 Offiziere und 9 Generäle, die in die sibirische Gefangenschaft gingen und praktisch alle bis 1917 in dieser verblieben, seine Teilnahme an diesem Kampf als Ehrenzeichen an seine Brust heften. 

Beinahe wäre die Stimmung bei den Kapitulationsverhandlungen freilich noch gekippt. Denn plötzlich war noch eine Detonation aus Przemysl zu hören, worauf General Selivanov einen Wutanfall bekam. Die beiden Offiziere schworen, daß das Zerstörungsprogramm beendet war, es mußte sich also um einen Unfall handeln, irgendwo war wahrscheinlich infolge der Brände, die natürlich da und dort noch weiterglimmten, noch etwas ungeplant hochgegangen. Seliwanow kochte, beruhigte sich aber etwas, um doch nachzusetzen: Wenn das nicht stimmte, würde er sie exekutieren lassen. Er halte sowieso nichts von Nettigkeiten: Vae victis! Wehe dem Besiegten!

Während dieser Verhandlungen waren russische Truppen bereits in die Festung vorgedrungen. Zu aller Überraschung waren sie freundlich, ja scherzten mit den Polen und Ruthenen unter den Habsburgischen Soldaten, verteilten Tabak. Nur an einem Abschnitt waren sie weniger freundlich, in den Trümmern des Forts IV. Dort war am Abend zuvor ein Spezialtrupp von 40 Russen bis zu den Mauern vorgedrungen, als die Sprengladungen detonierten. Alle waren tot. Als nun österreichisch-ungarische Soldaten den russischen Siegern mit weißen Fahnen entgegengingen, wurden sie erschossen.

Um neun Uhr langten die ersten Russen am Hauptplatz von Przemysl ein. Kosaken in prächtigen Uniformen preschten auf ihren Pferden im Galopp durch die Stadt, schrien ihr "Hurrah!" Für die Russen war es ein riesiger Triumph, und alle hatten an diesem 22. März 1915 das Gefühl, einen großen Augenblick der Geschichte zu erleben. Was einen General vor seinen Truppen zu der Ansprache bewegte: "Przemysl wird nun für immer in russischer Hand sein!" Knapp daneben. Etwas weniger Übertreibung demonstrierte die Petersburger Novaja Vremja (Neue Zeit), die schrieb: "Das ist das Ende des Habsburger Reiches!"

Bald folgt der letzte Teil: Warum Alexander Watson meint, daß Przemysl Prototyp der Genozide des 20. Jahrhunderts war. Ohne den Verlust der Festung Przemysl für die Habsburgermonarchie wäre es sogar gar nicht so weit gekommen. Hm, da könnte was dran sein.


*240821*