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Donnerstag, 30. September 2021

Aus den Notizen am Nachmittag eines normalerweise gebrauchten Tages (1)

13 Uhr) Die Lektüre ist mein Restprogramm für heute. Der Vormittag ist ja durch den Fehler bei den Tabletten eher nicht so gelaufen. Der Elektriker kam nicht, und diesmal war mir die Unzuverlässigkeit der Ungarn nur allzu willkommen.

Denn wenn ich die Medikamente zur Nacht vergesse, habe ich am nächsten Tag den Salat. Ich merke es normalerweise, weil ich aufwache und im Halbschlaf Alpträume, und, davon wach, so eiskalte Gedanken an Selbsttötung auftauchen, daß es mir kalt über den Rücken läuft. Dann weiß ich: Die Tradolan ... 
Die Pregabalin habe ich weniger in Verdacht. Vier Stück, je zwei und zwei, unmittelbar vor dem Schlafengehen. Wehe wenn nicht. Auch wenn die Schmerzanfälle immer seltener geworden sind, selbst wenn ich durch sofortiges Nachnehmen der vier Tabletten das Schlimmste noch abwenden kann, neige ich am Morgen danach zu Depressionen, weil ich schon im Vorhinein weiß, daß es ein gebrauchter Tag werden wird.

Aber heute war es anders. Ich den Lapsus sogar erst bemerkt, als ich die Tabletten in die Schalen für die Tageszeiten legen wollte. Da lagen sie nämlich noch, die Tradolans und Pregabalins. Aber ich fühlte mich so gut, daß ich sogar überlegt habe, sie mal nicht posthoc zu nehmen. 
Um halb zehn habe ich mich freilich umbesonnen. Während der etwas späten Laudes bin ich fast eingeschlafen, ich mußte umplanen. Auch wird es die Abendmesse werden müssen.
War es mein eigenes Befürchten, mein Selbstbeobachten? Ich habe nun doch die von früheren Malen bekannten Wirkungen der Nichteinnahme am Vortag zu spüren begonnen. Ich warf nach, aber eine Stunde braucht das Zeug, ehe es wirkt. Und dann werde ich müde. Zum Tag. Wie ich das hasse, vor allem das Lesen wird schwierig, ich schlafe manchmal dabei ein. Auch tagsüber. Die Tradolan, ganz sicher.
Nein, es war wirklich nicht so schlimm wie sonst. Die ersten Wirkungen der Marihuana-Tropfen? Schon jetzt, nach zwei Wochen? Im Laden haben sie ja erklärt, daß das die häufigsten positiven Wirkungen wären: Daß man weniger Medikamente braucht. 

Doch hat eine Stunde Schlaf gereicht, und zum Zwölfeläuten bin ich schon wieder am Schreibtisch gesessen. Vielleicht war es eh gar kein Versehen, sondern unbewußte "gute Wahl". Ich hab in den letzten Wochen dermaßen viel geschrieben, daß ich mich leer, ausgeschöpft fühle. Und die Tastatur meiden würde, wäre ich nicht an sie gekettet. In solchen Phasen (also alle paar Wochen, den Rhythmus kenne ich ja gut) ist sie ein Folterwerkzeug, das Macht über mich hat. 

Aber ist das irgendwo anders? Kommt Glück je von woanders, als aus der Folter der Gebundenheit, der Notwendigkeit, des Müssens?

"Einfache Formen" von André Jolles. Ein Buch über Sprache und die Formen der Literatur, aufbauend vom Mythos, die Entwicklung in die Formen, die wir kennen, eigentlich aber mehr deren Gestalt, ihr Wesen von da her gedeutet. Jedesmal: Toll, ich hatte ja früher mehrmals begonnen, einmal, zweimal, dreimal, lese dennoch selbst die ersten, dicht angeschmierten Seiten als hätte ich sie noch nie vor mir gehabt. Und kaue jedes Wort, jeden Satz, damit er Geschmack im Munde hinterläßt. Und wie dicht ist der doch! Hoffentlich bleibt er diesmal.
 
Daneben Ken Jebsen im Videogespräch. Es wirkt umso langweiliger. Interessant ist er nur als Studie. Der schießt pro Minute die fünffache Anzahl von Silben raus, aber selbst nach einer Stunde, so wie jetzt, bleibt höchstens ein Satz, oder zwei, und die mußte ich mir auch selbst formulieren, weil, was er sagt dermaßen ungeordnet - den Verzicht auf Ordnung nennt er tatsächlich Freiheit! (und natürlich war auch hier die Kirche die böse) Waldorfschüler, bäh - "ausgeworfen" ist, daß man gar keinen Sinn entnehmen kann. Ohne Ordnung bleibt alles oberflächlich. Aber er will - darum spricht er so schnell - einfach alles sagen, und zwar noch ehe es jemand anderer gesagt hat, damit er dann behaupten kann, er habe ES längst gesagt. 

Doch wer nicht ordnet, DER SAGT GAR NICHTS. Drum wundert es mich nicht, daß er erzählt, daß er sich neu erfinden will, und zukünftig "nichts mehr sagen will", sondern nur noch "zuhören", und Leuten sagen, daß sie "interessant" sind, auch der einfachen Bäuerin. (Wie er auf die kommt? Weil er jetzt auch anfängt Rhabarber und Kürbisse zu pflanzen? Und der Interviewer haut sich zur Proskynese in den Staub ... was für ein Tiefgeist. Jebsen: "Ich bin ja ein spiritueller Mensch." Weil seine "Vorfahren Sufi" waren. Daneben: Sufi sind keine spirituellen Menschen. Sie sind Techniker, die sich ins Delirium schwindeln. Mit Mystik, wie sie sagen, hat das nichts zu tun. Ein paar Tabletten Meth einzuwerfen oder acht Bier zu trinken wäre einfacher).
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er damit meint: Ich möchte, daß die Bäuerin MICH interessant findet. 

Seltsamerweise ist er mir dennoch ein bißchen sympathisch. Dabei redet er so viel oberflächlichen, langweiligen Stuß, den er auch noch für so furchtbar originell hält, daß jeder seiner Sätze den vorangegangenen überholen und abkürzen will, weil, der den er jetzt noch nachzuschieben hat noch bedeutender ist: "Das muß ich Ihnen unbedingt vorher sagen, das ist enorm wichtig!" Er redet, als schöbe er ständig die wichtigsten Sätze nach, sodaß sein Höhepunkt am Schluß liegt, seine Sermi eine einzige Leiter sind.
Lob dafür ist ihm ohnehin selbstverständlich. Den muß er gar nicht mehr hören, sagt er ja, er brauche ihn nicht. Ich weiß warum. Er gibt ihn sich selbst. Genau deshalb baut er auch nun seine Plattformen um, und "zieht sich zurück, will zumindest vorerst nur noch helfen, beraten." Nun, satt, wohlhabend und berühmt, überläßt er anderen "das Rampenlicht." 
Gefinkelt. Denn so hat er es gewiß, das Lob, und muß vor allem jetzt nicht kapitulieren. Weil er zuletzt immer häufiger erlebt hat, daß das, was er immer behauptet hat und nach wie vor fordert und als Grundlage von allem sieht, nicht eintritt. Das kann es auch gar nicht. Und - das sage ich - soll es auch nicht. Eine Massenbewegung, die eine eierlegende Wollmilchsau ist, wird nie entstehen. 

Zu einem der Höhepunkte des Videogesprächs klicke ich instinktiv weil zeitgerecht um (sonst höre ich eher nur zu) - als Jebsen nämlich erklärt, daß er zukünftig EHER SCHWEIGEN werde. Denn er habe die nonverbale Kommunikation entdeckt, man müsse nicht immer reden. Aber ob er das könne, meint skeptisch der Fragesteller? Na und ob! 
Und nun - tatsächlich! - sitzen sich die beiden Männer gegenüber und schweigen um die Wette. Ich bin vor Lachen geborsten: Da sitzen zwei fünfzig, fünfundfünfzigjährige Männer, die sich vorgenommen haben ein tiefernstes Gespräch über die tiefsten Dinge von Welt und Kosmos zu führen, und wollen beweisen, daß sie länger als der jeweils andere schweigen können. Und als der Moderator als erster das Schweigen bricht (denn er hat ja wohl einen Job zu tun, der aus reden besteht), gibt Ken Jebsen auch nach, um dann allen Ernstes die schicksalsschweren Worte zu formulieren: "Das könnte ich noch lange so tun." Na wenn das nicht den "Mertje Duilmansheuven-Preis der Ansger (sprich "Ans-cher") van Halmen-Stiftung in Leuven, für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Spiritualität" - Festrede hält der Dalai Lama (wenn er Zeit hat und die Wäsche schon trocken ist) verdient?

Das langsame Kauen ist gut so, denn das Buch von Jolles ist großartig und dicht. Aber schon nach wenigen Sätzen eilen wieder und wieder die Gedanken voraus. Sprechen als Befehl, so ist es zutiefst durchfärbt. Die indogermanische Wurzel von "lob" ist "-LEUBH". Und das geht in Richtung "versprechen", "so sprechen, daß etwas zustande kommt". 
GELOBEN, ist die bekannteste Form. Und glauben (alt "ge-louwbhen"), das kommt auch davon. Heißt es nicht im Niederländischen (wenn wir schon bei Leuven sind) "ich (aufs Halskratzen nicht vergessen) gleuve"? Im englischen "believe" hört man das eu, das man ja im Hochdeutschen "öü" ausspricht, allerdings noch deutlicher.

Die Sprache als Erzeugerin. "Im Anfang war das Wort". Sprache als Befehlende, Anordnende. 

Ich hab lang schon geschrieben, daß der Eid der Ursprung war. Von allem. Weil aus der Sprache, dem Wort, das alles begründet, alles wird. Angeblich hat ja (wo habe ich das schon wieder gelesen ... ah, Julien Green, Tagebücher, irgendwann in den 1990er Jahren, ich weiß es wieder) Erasmus von Rotterdam in seiner Bibelübersetzung aus dem Griechischen den Anfang des Johannes-Evangeliums mit "In principio erat sermo" übersetzt. "Im Anfang war das (geistreiche, darlegende) Gespräch.
Typisch Renaissance, schreibt Green, nicht aber, ohne davon sehr angetan zu sein. Der Sermon. Wort (logos) ist nicht als einzelnes Wort denkbar. Jedes Wort bezieht sich immer auf einen regelrechten Vorhof, Umhof, und hat deshalb seine Bedeutung nur aus einem großen Ganzen. Auch das Wort im Gespräch unter Menschen, selbstverständlich. 

Übermorgen Teil 2) Schaffen ist Umordnen, Umordnen ergibt das Neue. Das Luder in der Abendmesse, aber darauf legt sie es wohl an. Die Ungarin. Und die Gnade.


*070921*