Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 23. September 2021

Der Verlust der Welt (1)

Er sagt es so sanft, wie es einem wirklichen Wissenschaftler ansteht, voller Ehrfurcht vor der Wahrheit, voller Zurückhaltung, weil man so wenig wirklich fest sagen kann, und voller Dezenz und Feingefühl, weil man niemanden ungerecht angreifen oder verletzen möchte, und am beeindruckendsten: Mit unendlich viel Respekt und Ehrfurcht vor der Natur, die so voller Geheimnisse und extrem komplexer Strukturen steckt, an deren Wahrheitsoberfläche die Wissenschaft nur ganz ganz wenig zu kratzen vermag.

Aber umso überzeugender ist das Lamento, das Adolf Portmann, dieser große Naturwissenschaftler, 1957 in seinem großartigen Buch "Biologie und Geist" wahrscheinlich ohne es zu wollen komponiert. Und in dem er den Schrecken formuliert, der ihn befällt, wenn er die Entwicklung der Naturwissenschaften als Ganzes betrachtet. Das gesamte Bild, der Rang, die Stellung des Naturwissenschaftlers hat sich nämlich seit dem 19. Jahrhundert völlig auf den Kopf gestellt. 

Bis dahin waren Leute wie Humboldt, Linné und wie sie alle hießen auch bloß "NaturFORSCHER".

Das heißt, sie haben voller Respekt die Natur beobachtet, um aus ihr zu lernen. Die Gestalt war dabei der Maßstab, und bis dorthin war es auch die Gestalt der Lebensformen, die interpretiert und gedeutet wurden. Das Ganze also, das zählte, und in seinem Rahmen erst konnten Details einen Sinn ergeben. Denn "für sich" steht kein Organ, kein Teil eines Organismus. Ein Teil erfüllt stets in einer immensen Komplexität, die immer unser Denken und Wissen übersteigt, eine Funktion und Aufgabe, und in dieser Eingebettetheit muß er begriffen werden. 

Aber nach und nach hat sich sogar der Name geändert. Aus dem "Naturforscher" wurde ein "Naturwissenschaftler". Und das ist schon begrifflich falsch und suggeriert ein Wissen, das gar nicht vorhanden ist! Denn im Eigentlichsten ist Naturforschung eine Form von mythologischer Deutung, muß also von der Gestalt ausgehen. 

Keine Physik, keine Chemie kann erklären, warum es ausgerechnet dieses eine, ganz spezielle Blau dieser einen Pflanzenblüte ist, auf die diese eine Schmetterlingsart sucht und ausgerichtet ist, niemand kann erklären, warum ausgerechnet dieser eine Ton dieses Männchen jetzt und nur jetzt die Paarungsbereitschaft des einen Weibchens anregt, sodaß sie auf den Urheber des Tones wartet, der sucht, bis er genau dieses Weibchen gefunden hat. Die ganze Natur ist durchwirkt von extrem komplexen Gesetzlichkeiten und Regeln, die sich nur staunend betrachten lassen.

Dabei spielt selbstverständlich auch das Experiment seine Rolle. Der grandiose Naturforscher Henri Fabre - exemplarisch für den Naturforscher, der Vergangenheit wurde, der hinausging, der staunte, der beobachtete, der lernte - hat selbstverständlich experimentell gearbeitet. Aber das Experiment war nur ein Mittel unter vielen. Und auch er hatte ein Laboratorium, aber das hat ihm nie die Arbeit im Feld ersetzt. 

Das alles hat sich vollkommen umgekehrt, und es war eine folgenschwere Entscheidung, die da gefallen ist. Heute verbringen Wissenschaftler ihr gesamtes Leben in einem Labor, und gehen nur ganz bestimmten chemischen Reaktionen nach. Sie bekommen keine Ahnung davon, daß die Natur eine unendliche Fülle der mannigfaltigsten Kombinationen ist, die für die Erarbeitung von Wissen von größter Bedeutung sind.

Der Typus des Naturforschers hat sich gravierend geändert. Und der Glaube hat sich festgesetzt, daß nur diese Art der Forschung auch wirkliche Wissenschaft sei. Dabei wird die Natur, das Objekt der Forschung, völlig verkannt, und es entstand eine neue Hierarchie der Bedeutung von Erkenntnissen, die man nur noch als sinnwidrig bezeichnen kann. 

So gab es eine Gegenbewegung, die zu denken gibt: Je mehr die Deutung abgelehnt wurde, je mehr der Biologe sein Forschen auf Chemie, Physik oder (wie seit einem halben Jahrhundert) auf die "Gene" verlegte. Alles ging weg vom Sichtbaren hin zum Unsichtbaren. Tiergestalten sind höchstens noch "Test", Anzeichen für innere Vorgänge, Manometer ohne Eigenwert. Dadurch, so Portmann, ist es zu einer Entwertung der lebendigen Gestalt gekommen.

Während die Zeit wie noch nie von Bildern aller Kanäle und Medien überschwemmt wurde, weiß niemand noch etwas damit anzufangen. Die Wissenschaft konzentriert sich nur noch auf den "Kern" der Sache, aufs Protoplasma, die Gene, alles jenseits des Sichtbaren. Der "Scientist", zu dem der Naturforscher wurde, kümmert sich nur noch ums "Wesentliche".

So ist hier ein Gegenlauf zu beobachten. Während einerseits die Tradition, das Geschichtliche aus der Naturforschung verschwunden ist, ist anderseits der tragende Grund des Erklärungsansatzes für die Natur reine, unsichtbare Geschichte geworden (in der Evolutionsthese). Und während die Gestaltsicht und Bilderkraft der Vergangenheit wegen "wissenschaftlicher Unhaltbarkeit" verdrängt wurde, ist eine reine Vorstellung von der geschichtlichen Basis unserer Gegenwart bestimmend geworden. Wo der Naturwissenschaftler von Zeiten spricht, die er nie genau wissen wird, und von denen er nur wieder ... Mythen bilden kann.

So wurde die Biologie zur Biotechnik, und wo es um Gestalten geht, sind diese nur noch unter utilitaristischen Gesichtspunkten von Belang. Damit gelangen Merkmale in den Vordergrund, die die Gesamtdeutung eines Lebewesens komplett verschieben. Der Fisch zählt nur noch wegen seiner Stromlinienförmigkeit, die Formbildungen des Vogels sind nur noch "wegen" des Fluges. Die Vielheit der Lebensformen, die kaum faßbar ist, gerät in den Hintergrund, und die Natur wird auf das reduziert, was der Verstand begreifen kann. Die Tragweite solcher Betrachtungsweise wird gar nicht mehr gesehen. 

Die geistige Beziehung zu den vielen uns umgebenden Naturgestalten ist aber ein bedeutungsvoller Teil unseres Lebens, und für die Wahl der künstlerischen Bilder und Gleichnisse ebenso wichtig wie für die gesamte Formung unseres Erlebens und unseres Ausdrucks. Daher bedeutet jede Bevorzugung einer Geistesarbeit, die von dem sinnfällig gegebenen Gestalten weg ins Unsichtbare hineinführt, neben unbestrittenem Gewinn auch einen Verlust und eine Gefahr für das Ganze unseres Welterlebens. 

Morgen Teil 2) Aus dem Sehen wurde das Messen. Aus der Welt wurde ein technisches Gestell, und das Weltall begann wegzufliegen.


*010921*