Man diskutiert, um festzustellen, ob sie trotz oder wegen ihrer Mängel groß waren... Als ob diese beiden Dinge in der unteilbaren Ganzheit des Lebens nicht verschmölzen!
Aber wenn man so diskutiert, stellt man sich ihre Mängel wie Fremdkörper vor, welche durch Zufall in sie eingedrungen wären, nach Art eines Kohlenkörnchens im Auge oder eines Dorns in der Ferse.
In Wirklichkeit ist ein Mangel durch das Gesamt der Elemente des ihn besitzenden individuellen Systems bedingt, begrenzt und besonders gekennzeichnet.
In diesem System atmen das Positive und das Negative eins durch das andere: die Mängel eines großen Menschen gleichen nicht denen eines geringeren Menschen: sie sind das Lösegeld und die Ergänzung zu etwas anderem.
Vermöge des Gesetzes der gegenseitigen Durchdringung, welche jedes organische Ganze regiert, sind die Mängel eines außergewöhnlichen Menschen im Verhältnis zu seinen Qualitäten verteilt und sind mit diesen solidarisch: der Mangel steht in geheimnisvoller Verbindung mit dem Reichtum.
Das Hindernis ist, ohne deshalb aufzuhören, ein Hindernis zu sein, auch eine Ursache des außergewöhnlichen Werkes: das Hindernis und der Sprung rufen einander wechselseitig, - unsere Lasten sind auch unsere Flügel.*
Gustave Thibon, Aphorismen
*Wie Thibon es sagt: Es hört deshalb nicht auf, ein Hindernis zu sein. Es hört auch nicht auf, eine Sünde zu sein, oder von jeder Nähe zu Gott auszuschließen, also die Verdammnis zu wählen. Und es ist nicht (!) wie bei Hegel zu denken, als etwas das Sein hat (denn es ist in sich Seinsferne), und deshalb dem Sein gleichwertig gegenübersteht.
Was immer aus dem Nichtsein, dem Hindernis, dem Bösen, dem Schwachen usf. an Dynamik folgt, ist eine autonome Reaktion des Seins, des Seienden in seinem positiven Antonym.
Aber der Satz, oder sagen wir besser: Diese Lebensklugheit, hat noch eine weitreichende weitere Implikation. Denn er wendet sich gegen das Erfolgsdenken der Gegenwart. Das davon ausgeht, daß jedes Gelingen KOSTE ES WAS ES WOLLE zu erreichen und zu gewährleisten sei. Daß jedes Mißlingen ein so eklatanter Mangel am Dasein und nicht auszulöschen ist.
Dahinter steckt diese kulturelle Todesbewegung, alles an Fähigkeiten festzumachen. Scheitern ist also ein Mangel an Fähigkeit. Deshalb ist der Gescheiterte an keinem Platz mehr, sobald er scheitert.
Weder aber ist Scheitern eine Erzählung von der Unfähigkeit, noch ist Fähigkeit eine Garantie des Nicht-Scheiterns. Die Zusammenhänge sind immer geheimnisbeladen, und haben, davon müssen doch gerade wir Katholiken ausgehen, im Rahmen der Vorsehung Gottes zu sehen. Dem es nicht um Erfolg oder Nicht-Erfolg geht, und zwar nicht aus Großmut, sondern weil das überhaupt keine Seinskategorien sind. Uns (weil Gott, der uns deswegen geschaffen hat) geht es um die Reife zur Geistigkeit. Und was immer dieser dient, ist gutzuheißen, und kommt von Gott.
Erfolg oder Mißerfolg kommen im Denken Gottes überhaupt nicht vor. Vielmehr sind diese BEIDE in Besitz des Teufels. Der uns mit der Illusion, an diese beiden Begriffe schließe sich Bedeutung, an diese Welt so BINDEN möchte, als ob das Weltliche in sich eine Bedeutung hätte, so sehr wir es - als Ort, an dem wir unseren Sieg feiern, und nur an ihm - wertschätzen sollen. Erfolg hat dabei nur die Bedeutung, daß er in gewissem Maß die Wirkung der Liebe (weil im Erkennen das Richtige tuend, das dann auch das moralisch Gute ist). Weil es aus der Hand Gottes kommt. Aber niemals hängt unser Leben an Erfolg und Mißerfolg. Und schon gar nicht so sehr, daß wir dem Erfolg zuliebe auch unsere eigentliche Berufung, die Nähe zu Gott zu finden, beiseite schieben. Am liebsten bis zum oder nach dem Tod.
Aber wie viele, mein Gott, wie viele scheitern mit ihrem ganzen Leben, WEIL sie so viel Erfolg haben. Der ihnen vormacht, daß sie selbst Urheber alles Guten wären, sodaß sie keiner Gnade bedürften, weil die Welt ihnen gehört. Gerade Geldvermögen schafft es spielend, diese furchtbare Täuschung zu erzeugen. Weshalb auch in diesem Sinne die Armut immer vorzuziehen ist.
[... verdankten sie dem Herrn des Hauses und seinem ziemlich unglücklichen Einfall einer allgemeinen Zusammenkunft, um Mrs. Escridge und das kleine Veilchen aus England willkommen zu heißen. Das Fiasko dieser großmütigen Idee überzeugte ihn noch lange nicht von deren Unsinnigkeit und schien ihn keineswegs zu stören.]
Julien Green in "Von fernen Ländern"
Denn sie steht nicht in Gefahr, daß ihre Segnungen zum Mißbrauch der Welt verwendet werden. Etwa, um Unternehmungen anderer Menschen (und damit sie selbst) Gott aus der Hand zu nehmen, und mit Geld zum Erfolg einer sie und die Welt schädigenden Sache zu führen. Sodaß durch die Reichen, gerade dort wo sie sich mildtätig zeigen, auch so viele andere Menschen schon in den Tod mitgerissen wurden.
Aber in wie vielen Augen - und ich übertreibe nicht, diese Erfahrung begleitet mich mein ganzes Leben! - habe ich schon den Glanz wirklicher Demut und Offenheit für Gott gesehen, die gerade ein Scheitern erlebt haben. Wie demütig sind sie dann oft. Ja mehr noch: Wenn Menschen, die zu Erfolg kommen nie eine tiefe Erfahrung des Scheiterns hatten, stimmt irgendetwas an ihrem Erfolg nicht. Ich kenne genug, auch Kollegen, die erst in dem Augenblick überhaupt zu ihrem eigentlichen schöpferischen Werk gekommen sind, wenn sie sich nicht mehr um Erfolg oder Mißerfolg gekümmert haben. Die aus dem schlimmen Erleben mit einer ganz neuen Kraft hervorgegangen sind, in der sie dann zu ihrem wahren Werk gekommen sind.
Die Menschen, die ich kenne, die wirklich großen Erfolg hatten, haben sogar alle diese Augen. Und bestätigen was ich hier sage. Erst das "Schlechte", aus dem sie niemand gerettet hat, vor dem sie niemand bewahrt hat, keine Förderstelle und kein Brief eines Gönners, hat sie gereinigt.
Mit der Sünde verhält es sich auf ähnliche Weise. Wieviel Antrieb zum Guten ist ihr schon entwachsen, und welche wahren Wunder hat die Erfahrung gebracht, WAS und WIE man wirklich in der Sünde IST. Ja, es ist sogar Teil des Geheimnisses der Heiligkeit, diesen Zustand nie zu vergessen, immer zu erinnern. Weil es umgekehrt immer wieder die fehlende Erinnerung, das vergessene Grauen ist, das den Menschen dazu verführt, vielleicht sogar immer wieder ein- und dieselbe Sünde zu begehen.
Wie viele falsche Entscheidungen werden gefällt, weil man sich an den eigenen Zustand im Falschen nicht oder zu wenig erinnert. Ja, die Haltung des Lasters ist gar nicht so sehr verdammenswert, weil sie "ständig das Böse tut". Sondern weil sich der Lasterhafte an das selbst erkannte oder erfaßte wahre, geistige Urteil über eine falsche Sache (also seinen Zustand darin) die Erinnerung stets in dem Moment nicht ergreift (also gar nicht so sehr: verliert), in dem sich ein augenblicklicher Impuls einstellt, von dem er (gegendert: er/sie) sich mitreißen läßt?
All das zusammen bedacht - ist nicht deshalb eine so mysteriöse hohe Korrelation zwischen der Sünde und der Fähigkeit festzustellen, sich zu erinnern? Lebt ein Zeitalter des Bösen nicht gerade sogar davon, die Erinnerung auszulöschen oder (sogar gewaltsam) zu verfälschen, umzudeuten, neu zu deuten, oder gar zu erfinden? Vor allem auch, weil Zusammenhänge falsch konstruiert werden, übrigens. Fälschen also in jeder Hinsicht, sodaß man der eigenen Erinnerung immer weniger vertraut, oder gar nicht mehr wagt sich zu erinnern, wie etwas WIRKLICH war.
[Der Sache treu bleiben, nicht links nicht rechts gesehen, wohin die Fahnen fallen, die man mitreißt, nicht die Kameraden zählen, die vom Pferde fielen, das beflügelte ihn in einem wahren Rausch der Konzentriertheit, in dem es ihm nur um eines ging: Die Aufgabe in einer Schlachtenoperation zu erfüllen, deren Gesamtstrategie ein Größerer, Höherer als er ausgedacht hatte, und die nur dann zum Sieg führen konnte, wenn jeder Teil seine Aufgabe mit ganzer Hingabe erfüllte.]
Anthony Pernelly in "A storm in Allegany"
Wir stehen immer in einem viel größeren Spiel, dessen Insgesamt wir niemals kennen, das uns immer übersteigt, und dessen Grenzen sich im uns fliehend immer weiter fortschieben, sobald wir sie ergreifen wollen. Und nur aus diesem Großen heraus ist überhaupt ein Einzelnes, sind wir also, hervorgegangen. Ob wir dabei fallen oder stehen, ob wir siegen oder verlieren - diese Gesamtstrategie ist es, der wir dienen, und dieser Dienst ist der Sinn unseres Daseins.³
²Man denke an Ereignisse des Scheiterns in Lebensläufen, die man unbedingt verheimlichen oder schönreden möchte; welche Angst Menschen entwickeln können, daß jemand ihr früheres Scheitern entdeckt!
³Ich bin mittlerweile sogar der Auffassung, daß selbst eine gescheiterte Ehe, eine Katastrophe sogar, in der sich die Partner nie mehr sehen wollen, besser ist als keine. Ich werde mich dieser Einsicht, die mich unlängst überfiel, demnächst eingehender widmen. Der Meinung, daß es besser ist, etwas getan zu haben, das falsch war, als aus Feigheit, aus Bequemlichkeit gar etwas einfach so dahintreiben haben lassen, nicht zu handeln, bin ich ohnehin schon lange. Im besonderen sehe ich bei jungen Menschen, die nicht heiraten wollen, und stattdessen einfach so zusammen leben, weil es eigentlich recht bequem so ist, einen "tiefen Tod der Lebenssimulation".
Die Stumpfheit und Öde, in die so viele Menschen gefallen sind, weil sie ihrem Leben keine Gestalt mehr geben können oder wollen (irgendwann folgt ohnehin eines aus dem anderen), ist niederschmetternd. Fast so niederschmetternd wie dann, wenn sie dieses ihr Leben auch noch als besonders "gut" (weil von der Unfreiheit der bösen Gestaltzwänge befreit) verteidigen.