Was Stalingrad nicht schaffte, schafft der Hindukusch. Der Wahnsinn greift um sich. Und allen geht es ums Öl. Den Taliban aber um ihre Familien. Und manchen ums Opium. - Daß es einen Grund geben könnte, warum ein so großes Land mit immerhin 30 Millionen Menschen - im europäischen Vergleich entspricht das etwa Polen - wie durch einen Dammbruch innerhalb weniger Tage von maximal 70.000 erklärten Kämpfern erobert, ja überschwemmt werden konnte (nur ein größeres Tal ist derzeit noch nicht erobert, das aber von einem Stamm gehalten wird, der schon früher immer wieder seine Extrawürste zu kochen versuchte, nicht von der ehemaligen Regierung) scheint niemanden zu wundern. Zumal andere Bilder, Bilder von zahlreichen jubelnden Menschen, die die Änderung begrüßten, ohnehin bei uns nicht zu sehen waren.
Aber heute wie seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben die Afghanen eine Gesellschaft, die ländlich dominiert ist, und deren Gepräge von Tradition und Familie ist. Und das wollen die Afghanen nicht aufgeben. Das geben und gaben nur jene gerne auf, die schon universalistisch genug waren, ihre gewünschte Lebensführung sofort in westizistischer Oberflächlichkeit, liberaler Wert- und Wurzellosigkeit und hedonistischer Konsumideologie erfüllt zu sehen. Wie sie sich in den wenigen großen Städten bilden konnte.
Von einer Eroberung, von einer Beherrschung des Landes zu sprechen, war zu keinem Zeitpunkt möglich. Die fremden Soldaten verstießen hingegen gegen einen elementaren (islamisch fundierten) Grundsatz, in dem ein bewaffneter Ungläubiger auf eigenem Grund und Boden eine unerträgliche Provokation und die Notwendigkeit, das dulden zu sollen, eine schwere Ehrverletzung war.
Demgemäß anders schildert Scholl-Latour in eindringlichen Bildern, wie das tatsächliche "Verteidigen Deutschlands am Hindukusch" ausgesehen hat: Nie war etwas davon zu bemerken, wie es doch so oft an anderen Orten "der Befreiung" gesehen werden kann, daß die Soldaten der befreienden Mächte ohne Helm und Gewehr und gar alleine (sondern nur in Gruppen) über den Markt schlendern und mit der Bevölkerung Lebensfreundlichkeiten austauschten.
Scholl-Latour kannte Garnisonen, wo der Großteil der Soldaten über drei, vier Monate die Kaserne nicht einmal verlassen hatte. Zu groß war die Angst, von Heckenschützen oder heimtückischen Sprengfallen schwerst verwundet oder getötet zu werden. Und kam gar noch Beschuß von irgendwoher, hatte man genug zu tun, um sich vor den Granaten zu schützen und die Bunker aufzusuchen. Manche Stützpunkte waren dermaßen untauglich eingerichtet, daß sie ihren Bestand - in dem sie nur mit Hubschrauber halbwegs sicher zu erreichen waren - nur dem Umstand verdankten, daß sie noch nicht angegriffen worden waren. Denn sobald das der Fall gewesen wäre, hätten sie nur noch versuchen können, irgendwie ihr Leben zu retten, denn vom militärischen Gesichtspunkt aus war der Stützpunkt nicht zu halten.
Es übertrifft jedes Maß an Dummheit, ja es gerät in den Verdacht geistiger Mangelerscheinung, glaubt jemand ernsthaft, dieser oder überhaupt solchen traditionell gewachsenen und sozial gefestigten Gesellschaften, wie sie die islamisch geprägte Welt kennzeichnen, mit luftigen Schaumbildern eines irrational verschwommenen Begriffs von Demokratie als alleinseligmachender Gesellschafts(un)form und kapitalistischer Konsumfreude begegnen zu wollen.
Deshalb muß man auch die Motivation im Engagement der USA, die ihre "Freunde" genötigt hatte, wenigstens in geringem Ausmaß mitzuwirken, sich aber damit in jedem Fall ebenfalls mitverantwortlich und mitschuldig gemacht zu haben, woanders suchen. Peter Scholl-Latour tut es durch geopolitische Betrachtungen. In denen Afghanistan seit Jahrhunderten ein sehr konsistentes Bild zeigt. Zu dem auch eines gehört: Freiwillig geben die dort lebenden Völker ihr Land nicht her. Und mit den westizistischen "Landesverrätern" aus der Hauptstadt ist da - wörtlich - auch kein Staat zu machen.
Die strategische Bedeutung Afghanistans hat sich durch die seit dem Ersten Weltkrieg explodierende Rolle des Erdöls aber noch gewaltig gesteigert. Nicht, weil das Land Erdöl selber hätte - das ist gar nicht der Fall. Vielmehr ergab sich seine Bedeutung durch das ewige russische Streben, endlich eisfreie Häfen zu haben. Denn schon Halford Mackinder wußte: Keine Weltmacht ohne See. Anderseits war Afghanistan von elementarer Bedeutung für England, als Verbindungsstelle zu Indien. Die hohen Gebirge Zentralasiens sind nämlich ausgerechnet in Afghanistan in ost-westlicher Richtung durchfurcht. Sodaß effiziente Verbindungswege zu Land, um das Riesenreich Indien mit seinem immensen Energiebedarf mit dem ebenfalls englischen arabisch-persischen Raum zu verbinden, nur über Afghanistan möglich sind.
Warum, könnte man nun fragen, ist das heute noch von Belang? Indien (mit seinen früheren, aber muslimischen Gebieten Pakistan und Bangladesch) ist doch keine Kolonie mehr? Ja, Indien nicht mehr, und auch der Suezkanal ist nicht mehr in englischer Hand. Aber die Seewege sind nach wie vor britisch-strategisch, über Gibraltar und Zypern beherrscht England den Weg vom Suez aus zu sämtlichen europäischen Volkswirtschaften. Und dazu kommt ein Umstand, der leicht vergessen wird: Die Ölgesellschaften BP und Dutch/Shell, sie sind direktes englisches Dominium, ja sie gehören sogar direkt .. der Queen. (Und dem niederländischen König, das nebenbei.) Diese reale Bedeutung hat sich noch gesteigert. Denn das zentralasiatische Öl ist ja ebenfalls in der Hand von britischen und amerikanischen Ölgesellschaften.
Afghanistan ist also strategische Drehscheibe. Die freilich andere Bodenschätze hat. Bodenschätze, die erst in den letzten Jahrzehnten so extrem an Bedeutung gewonnen haben. Wie riesige (und erst im Anfangsstadium abgebaute) Vorkommen von Lithium, das für Computerchips, Solarzellen und vor allem für Batterien so wichtig ist, oder Kupfer, ohne das das derzeitige Lieblingsprojekt politischer Verstiegenheit, die Energiewende, undenkbar ist* und wonach der weltweite Bedarf also extrem ansteigt, oder die weltweit drittgrößten Lagerstätten von Seltenen Erden, bei denen derzeit China die Hand am Haupthahn hat, die aber essentiell für Telekommunikation und (wieder) Batterien sind. Das ist wohl der Grund, warum das chinesische Freundschaftsverhältnis zu den Taliban schon eingesackt war, das sah noch niemand bei uns kommen, daß sich die offiziellen Machtverhältnisse derart rasch ändern würden.
Wobei: Haben die Machtverhältnisse sich wirklich verändert? Die offizielle Regierung hat nämlich das Land ohnehin nur in der Hauptstadt beherrscht. Was die vom Westen aufgeblasene afghanische Armee wert war, hat sich ja gezeigt. Sie haben kampflos die Waffen gestrichen, sobald sich Talibankämpfer nur angekündigt haben. Die wirkliche Macht in Afghanistan hatten immer die Clanchefs, die "Warlords", wie es bei uns meist und nicht untendenziös heißt.
Das Land ist also geostrategisch "gegen Rußland" entscheidend, ja kann sogar die direkte Landverbindung der beiden Länder blockieren, und ist eine wichtige Drehscheibe zwischen den zentralasiatischen Gas- und Ölproduzenten und Verbraucher-Kupplungen, also den Verladestellen an der Meeresküste von Pakistan.
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In jedem Fall gilt: Der Westen mußte hier den Iran vermeiden, und wollte dort nicht von Rußland (über Häfen am Schwarzen Meer) weiter abhängig werden. Doch auch für China sind diese Pipelines von größtem Interesse. Denn vor allem der sich als Zentralpunkt der Erde verstehende Reich der Mitte ist (wie Japan, übrigens) vom zentralasiatischen (und arabischen wie persischen) Öl abhängig.
Hier geht es zu den Videos: Peter Scholl-Latour spricht 2009 über Afghanistan.
*Für Windturbinen und die dazugehörige Infrastruktur werden 2,5 bis 6,4 Tonnen Kupfer pro Megawatt benötigt, bei Solarzellen sind es 5,5 Tonnen pro Megawatt.
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