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Donnerstag, 2. September 2021

Hält Przemysl? (3)

Für den 18. März 1915 hatte der Festungskommandant von Przemysl, Generalleutnant Hermann Kusmanek von Burgneustädten, schließlich einen ultimativen Ausbruchsversuch angesetzt: Kämpfen muß das Ungarnheer, Siegen oder sterben, heißt es in der Operette - Es ging nur noch um die Ehre. 

Die Lage in der seit Oktober belagerten österreichisch-ungarischen Festung war völlig verzweifelt. Jede Hoffnung, daß Generalfeldmarschall Conrad von Hötzendorf von den südlich gelegenen Karpaten her eine Ersatzarmee schicken könnte, mußte endgültig aufgegeben werden. Der Winter war zu hart, und an ein Durchkommen im Schnee gegen die drei russischen Armeen, die Przemysl in weitem Umfeld umschlossen hielten, war nicht zu denken. Denn wie immer hatte Conrad Divisionen "befehligt", die es gar nicht gab. 

Seit Ende Februar waren die Lebensmittel in Przemysl definitiv erschöpft. Auch brutalste Requirierungen in den vorgelagerten Dörfern innerhalb des Festungsrings brachten nichts mehr ein. Für ein paar Tage konnte man sich noch mit Hilfsmitteln behelfen, wie ausgekochte Pferdehaut, oder dann wurde wie durch ein Wunder in einem verschütteten Keller ein vergessenes Lager mit tausenden Kilogramm Zucker gefunden. Dann wurden die Pferdeknochen vermahlen, aber auch die waren für die gut 135.000 Seelen in der Festung nur einen einzigen Tag Erleichterung. Brotmehl wurde durch verpflichtende Beigabe von 20 % Sägespänen gestreckt, sodaß die Mägen wenigstens voll waren. Hunde und Katzen gab es ohnehin schon länger nicht mehr, Ratten und Mäuse wurden zu horrenden Preisen gehandelt. Und im Niemandsland zwischen den Kampflinien wurde nachts und unter Lebensgefahr im gefrorenen Boden nach Kartoffeln gegraben, die dort vielleicht im letzten Herbst nicht geerntet worden waren.

Nun mußte über die letzte Reserve an Pferden entschieden werden. 4.100 waren von den über 27.000 noch nicht gegessen worden. Die Pferde aufgeben hieß aber, endgültig die Hoffnung auf ein militärisches Operieren aufgeben. Einmal aber wollte es Kusmanek aber doch noch wissen. Nun wurden sie zur Schlachtung vorbereitet. 

Es gab aber nicht einmal mehr Brennholz. Die Soldaten verbrannten schon Mullbinden von den Verbänden, oder Gamaschen, oder bauten die Grabenbefestigungen ab und zerhackten sie - Hauptsache, das Feuer konnte noch ein wenig unterhalten werden. Denn in Galizien herrschte ein bitterkalter Winter, und durch die Einschließung mußten alle noch mit den Sommeruniformen des Vorjahres Vorlieb nehmen. 

Die Mannschaften waren Mitte März vor Hunger, körperlicher Anstrengung und nervlicher Anspannung nur noch müde und erschöpft. So erschöpft, daß immer mehr in Apathie fielen. Sie lagen dann wie in Trance nur noch in den Quartieren oder Gräben herum. Was Kusmanek und seine Generäle am meisten erschreckte war, daß auch das Sterben nur noch hingenommen wurde. Manche lagen da, starrten vor sich hin, sagten den ganzen Tag kein Wort mehr, und waren am nächsten Tag tot.

Die Moral im Kessel war am Boden. Seit September war man (mit der Unterbrechung im Oktober) belagert. Immer wieder hatte man die Russen in schweren Abwehrkämpfen zurückgedrängt, und jedes Nachlassen der Anstrengungen, jede Schwächung eines Verteidigungsabschnitts wurde sofort mit einem Angriff beantwortet. Die Russen schienen hellsehen zu können. Oder verrieten doch die Galizier alles? Immerhin waren tausende Soldaten der Festung in Galizien ausgehoben worden.

Die Furcht vor Spionen und Verrätern war allgegenwärtig, auch beim Festungskommandanten. Täglich liefen dutzende Soldaten über, sofern sie einen Weg durch die Stacheldrahtverhaue und Gräbensysteme fanden, ohne aufgegriffen oder von den Russen nicht massakriert zu werden, und sogar anerkannt tapfere Helfen waren unter den Überläufern. Und dann waren noch dazu viele der Soldaten galizische Bauernsöhne, die es sich mit allfälligen neuen Herren nicht schlecht stellen wollten, und um ihre Daheimgebliebenen bangten.

Feldmarschall Conrad, der in Krakau in einem herrlich ausgestatteten und bestens versorgten Kommandogebäude residierte, schrieb an seine Geliebte in Wien: Ich leide mit den Soldaten in Przemysl mit. Aber dennoch muß ich sagen, daß sich niemand vorstellen kann, was für eine Belastung körperlicher und nervlicher Art meine Aufgabe als Truppenkommandeur ist. Sie übertreffen auch die Belastungen der Soldaten von Przemysl. Conrad wußte vom Ausbruchsversuch Kusmaneks. Sobald die Lebensmittel zu Ende sind, am selben Tag muß er starten, war der Befehl. 

Dabei kalkulierte er beinhart mit dem Scheitern, ja rechnete damit, so viel Erfahrung hatte er allemal, das einschätzen zu können. Aber das war gleichgültig. Denn in jedem Fall war Przemysl, dessen Opfer drei Armeen gebunden hatte, sodaß sich die k.u.k-Armeen wieder reorganisieren und auffüllen konnten, ein Symbol geworden. Ob sich deren Schicksal im schrecklichen Tod der Belagerten oder in ihrem heldenhaften Sieg erfüllte - Helden waren sie schon gewesen, und Helden blieben sie. Und damit zu Vorbildern der Lebens- und Kampfesfähigkeit der gesamten Monarchie. 

Wäre Przemysl gleich im September, im Zuge des Zusammenbruchs der gesamten Ostfront der Monarchie, aufgegeben und nicht verteidigt worden, wäre es früher gefallen, was sowieso die Erwartung aller war, wäre nicht nur der Krieg verloren, sondern die Monarchie am Ende gewesen. Es mag zynisch klingen, aber das Opfer der Besatzung in Przemysl war tatsächlich "nicht umsonst" gewesen.

Mißtrauen vergiftete jede Beziehung in der Festung, Paranoia wurde zur Haltung. Wenigstens diesmal wollte Kusmanek Verrat vermeiden, und so eröffnete er niemandem, wirklich niemandem etwas von den Ausfallsplänen, die er völlig alleine ausarbeitete. Um seine Truppenkommandeuren 10 Stunden vor Angriffsbeginn zu versammeln und in Kenntnis zu setzen. Somit konnte nichts mehr in Ruhe überlegt und geplant werden, und entsetzliche Koordinationsfehler waren einer der Gründe, warum die ohnehin fast absurd-waghalsige Aktion so desaströs endete. Wie Conrad hatte auch Kusmanek zwar mit "kampffähigen" Truppen geplant, aber die 40.000 Soldaten, die für so einen Ausbruch noch in Frage zu kommen schienen, waren längst ebenfalls vor Hunger und Anstrengung völlig geschwächt, waren genauso schlecht bewaffnet, und froren. 

Morgen Teil 4) Der Ausbruch, der ein Zusammenbruch war. Przemysl war der Korken in der Flasche, deren Geist Osteuropa zu einem "bloodland" machen sollte.


*240821*