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Samstag, 4. September 2021

Hält Przemysl? (4)

Der Ausbruch, der ein Zusammenbruch war. Przemysl war der Korken in der Flasche, deren Geist Osteuropa zu einem "bloodland" machen sollte. Die simpelste Erklärung dafür, daß die Russen alles, einfach alles zu wissen schienen, was in der Festung vor sich ging und was an Verteidigungsmaßnahmen geplant war, lag ... im Radiosender. Dessen Code war von russischen Ingenieuren geknackt worden, und jede Meldung von oder an die Festung wurde somit vom Feind mitgelesen. Jede Verlegung von Truppen wurde sofort vom Feind beantwortet, jede geplante Aktion unterbunden, und die russische Artillerie - ohnehin der österreichischen an Feuerkraft, Geschützqualität und Munition weit überlegen - schlug pünktlich und präzise los, sobald sich etwas zu treffen bot. 

Die russische Artillerie war ohnehin das Fallbeil für die österreichischen Armeen in diesem ersten halben Jahr des Krieges gewesen, wo sie von Niederlage zu Niederlage getrieben wurden und nur durch den Mut der Verzweiflung wenigstens halbwegs zurückgehalten werden konnten. Sodaß das Ziel, über die Karpaten Budapest zu erobern, nicht erreicht wurde. Sie konnten anders als die Habsburger Truppen mit den neuen Arten des Kampfes umgehen. Die die Österreicher nicht kannten, und deshalb vorsorglich für untauglich erklärt hatten; leider. Sie mußten nachvollziehen, was die Russen selber im Krieg mit den Japanern 1905 blutig lernen hatten müssen. 

Das Zauberwort hieß "kombinierte Waffengattungen", und bedeutete etwa, daß die Artillerie jeweils das Terrain vor der eigenen vorrückenden Truppe beackerte. Der Beschuß rückte dann jeweils mit weiter, die russischen Geschütze hatten anders als die österreichischen dazu auch die Reichweite. Unter solchen Bedingungen war oft an eine Gegenwahr durch die Österreicher kaum zu denken, man konnte nur fliehen. 

Aber da waren dann die russischen Scharfschützen mit ihren hervorragend geeigneten Gewehren.

Eine Kampfesweise, die zwar jeder Ehre widersprach weil heimtückisch war. Aber was zählte Ehre im 20. Jahrhundert, wo es nur noch um den Effekt ging.  

Erst nach den unglaublich verlustreichen Erfahrungen des ersten Jahres veränderte sich die Kampfesweise auch der Truppen der Donaumonarchie. Die feldgrauen Kampfdrilliche kamen, die Splitterhelme ersetzten die Pickelhauben, endlich kamen ausreichend Maschinengewehre und Kruppgeschütze, und die Dienstrangabzeichen wurden unansehnlich grau oder grün, je nach Uniform. 

Die österreichisch-ungarischen Truppen waren schon nach zwei Monaten Kriegsausbruch völlig demoralisiert, weil sie sich mit jedem Kampf mehr wehrlos empfanden. Diese fehlende Kampfmoral versuchten die Offiziere durch den altehrwürdigen Grundsatz zu heben, indem sie mit leuchtendem Beispiel vorangingen - und mit gezücktem Säbel in Massen abgeschlachtet wurden. Sie gaben ein hervorragendes Ziel für die russischen Scharfschützen ab, mit ihren prächtigen Uniformen, den gelben Schulterstücken, den leuchtend roten Käppis, den hellblauen Hosen. Auch in Przemysl gab es keine 15 % der ursprünglichen Offiziere mehr.

1915 kamen dann deutsche Offiziere, und bald ging die Ostfront der Monarchie wieder in den Angriffsmodus über. Sie wurden in die österreichisch-ungarische Vielvölkerkampflinien eingezogen wie Walbein in die Korsette. Einige genügten, die diese Kampfweise bereits beherrschten und lehren konnten. Sodaß es die k.u.k.-Fronten waren, aus deren Erfahrungen mit der Truppenschulung heraus ein deutscher Oberleutnant ein Lehrbuch schrieb, das noch über den Zweiten Weltkrieg hinaus ein Klassiker der Infanterietaktik war. Der Name des Autors von "Infanterie greift an"? Erwin Rommel.

Aber im Ausbruchsversuch von Przemysl lebte noch der bekannte k.u.k-Dilettantismus. Die Koordination der Abmarschzeiten war mangelhaft, eine spätere Abstimmung nicht möglich. Verspätete sich eine Kompanie auf den durch den Frühlingseinbruch in den Tagen zuvor sumpfig gewordenen Wegen und Wiesen, stand sie alleine in der galizischen Ebene und fand im Dunkel auch keinen Anschlußpunkt mehr. 40.000 Mann sollten sich durch ein Gelände anpirschen - getrennt marschieren, damit die Russen nichts merkten, vereint zuschlagen, so hieß es doch einmal bei den Preußen - das man nicht einmal genau kannte, weil es nicht ausreichend erkundet worden war. 

Als ein ungarisches Bataillon (und das sind 4.000 Mann), das "zufällig" zum vereinbarten Zeitpunkt - drei Uhr dreißig - am Punkt des allgemeinen Losschlagens (man wollte im ersten Schritt in die russischen Gräben springen, und die Feinde totstechen) eingetroffen war, stand es alleine. Eine halbe Stunde später entschied sein Oberst, Géza von Szathmáry, dem alles schon egal war, er wollte nur noch seine Ehre retten und Ruhm für seinen König erlangen, loszuschlagen. Aber nun wachten die Russen auf, nicht nur an diesem Abschnitt. Von den Ungarn überlebten 1.500 Mann. 

Als die Hauptangriffsgruppe mit Kusmanek und 20.000 Mann, die ohnehin mehr wankten als gingen, weil sie so erschöpft waren, in der Nacht zum 19. März 1915 um 4:30 Uhr - eineinhalb Stunden später als geplant - in finsterster Nacht ihre eigentliche Kampfstellung erreicht hatte, waren die Russen also bereits gewarnt. Der stille, schon zuvor weit verspätete Vorstoß war auch noch durch einen Kanal aufgehalten worden, den niemand erwartete hatte, und der unüberwindbar weil zu breit und zu tief war. Bis endlich einige Soldaten in einer Hausruine zwei Kilometer entfernt Holzbalken gefunden hatten, aus denen man eine Behelfsbrücke zimmern konnte, über die dann Mann für Mann den Kanal überqueren konnte, graute bereits der Morgen. 

Und damit war man sichtbar geworden. Weit und breit war keine Deckung. Die Russen wußten dafür endgültig, in welcher Dimension ein Ausbruch geplant war. Die Schatten, die sich aus dem Dunkel hoben, waren leichtes Spiel für die Maschinengewehre, für die Artillerie, für die russischen Soldaten. Die Habsburger Soldaten, wie der britische Historiker Alexander Watson, der jüngst über die Belagerung von Przemysl ein Buch verfaßt hat, sie häufig nennt, hatten da noch nicht einmal Munition in ihren Gewehren, sondern nur aufgesetzte Bajonette. Das war so angeordnet worden. Kein versehentlich oder aus Nervosität abgegebener Schuß sollte den Ausbruch verraten.

Die Verluste waren horrend. An manchen Abschnitten lagen 70 % der angetretenen Soldaten tot am Boden. Gegen sieben Uhr mußte der Ausbruch abgebrochen wurde. Und die, die sich noch retten hatten können, endlich zurückwanken konnten. 

Was ihnen ohnehin niemand gesagt hatte war, daß der gesamte Ausbruchsversuch aus der Festung Przemysl ein Irrwitz war. Denn Kusmanek hatte ihn ... nach Osten geplant. Zwar war die Überlegung richtig, daß die Russen damit sicher nicht rechneten, aber was, wenn er geglückt wäre, man die russischen Armeen durchbrochen hätte? Wohin dann? Nach Moskau weitermarschieren? Das 200 Kilometer entfernte Lwow befreien? Wohin sollten die Männer, die doch schon vor dem Angriff in der Nacht vom 18. auf den 19. März 1915 kaum noch ihr Kampfgepäck tragen konnten, so erschöpft waren alle, und Pferde gab es ja nicht mehr, überhaupt noch marschieren? Nach Süden schwenken, um sich gegen eine Million Russen die 300 Kilometer bis zu den Karpaten durchzukämpfen? Oder sich dann ergeben, nicht in der Festung? Es war also von Anfang an ein sinnloses Himmelfahrtskommando.

Um sieben Uhr wankten knapp 20.000 Soldaten hinter die Linien zurück. Kusmanek eilte in den Befehlsstand, um die Abwehr zu organisierne, denn nun war ein Gegenstoß der Russen zu erwarten. 

Bald folgt der 5. Teil) Armageddon 1, 2, 3 und 4. Als das Ende der Welt kam


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