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Freitag, 24. September 2021

Der Verlust der Welt (2)

Aus dem Sehen wurde das Messen. Aus der Welt wurde ein technisches Gestell, und das Weltall begann wegzufliegen. - Diese Wahl - weg vom Naturforscher, hin zum Scientisten - wurde in ihren Grundweichenstellungen schon im 13. Jahrhundert beginnend, und endgültig in der Renaissance des 16. Jahrhunderts getroffen. Das innere Vorstellungsleben, wie es seit Descartes zum eigentlich Menschlichen erklärt wird, hat überhand genommen, während die Welt und ihre Gestalten verloren gegangen sind. Aus dem Wirklichen der Dinge, die in ihrem in-der-Welt-sein gesehen werden, das bestimmt ist von ihrer Beziehung zur Welt und zu einem selbst, wurde eine "gemessene" Größe und Einschätzung!

Aus dem unbedingten Wahrsein eines "Du bist mir nahe!" wurde ein Abstand von 82 Zentimetern, als wäre das eine Aussage von Wert. Und aus dem "Du bist mir nahe, auch wenn Du weg bist" wurden 700 Kilometer, von denen der eine dann sagt, sie seien viel, der andere also gar nicht nahe sondern fern, weil er 8 Stunden Fahrzeit rechnet (und die Welt der Orte als Beziehungsknoten in Fahrzeiten gegliedert hat), und der andere, der New York zum Wohnsitz hat, findet den Weg von Wien nach Stuttgart einen Katzensprung, zumal er mit dem Flugzeug fliegt, in dem überhaupt die Qualität von Raum und damit die Beziehung zum Zielobjekt zu einem ganz großen Teil buchstäblich verschwindet.

Ich saß in der Kirche und plötzlich wurde mein Blick in die Runde gezogen, zu den Bildnissen, Statuen, zur Muttergottes über dem Altar, der - im Bilde deutlich - aus ihrem Schoß stammt.

Plötzlich wußte ich, warum diese Statue groß, jene Darstellung klein war, und warum das dasselbe ist wie dann, wenn wir in die Welt schauen: Was war "weg", was war "nah", und warum? - Dieser Wandel des Wahrnehmens zeigt sich in der Entstehung der Perspektive. Wo das alte romanische Bild des Wirklichseins der Dinge, in denen es eben die Beziehungen sind, die Raum überhaupt erst schaffen, weil es einen "Raum an sich" nicht gibt (und noch heute hat kein Wissenschaftler eine Erklärung dafür gewußt, was denn Raum überhaupt sei).

Sodaß die Frage ist, ob es nicht nur unsere Wahrnehmung ist, die das Weltall immer "weiter auseinanderstreben" läßt, wie wir es angeblich beobachten. Weil uns der Kosmos tatsächlich immer ferner weil beziehungsloser wird. Vor allem aber, weil in den Medienwelten, in die wir so viel von unserem seelischen Leben ausgelagert haben, auch die Erinnerung als Fähigkeit und Erkenntniskraft immer schwächer geworden ist. Bis zur Demenz als Massenerscheinung, in der sich die innere Kraft, in der die Welt und die Beziehung zu ihr lebendig erhalten bleibt, auflöst.

So wurde die Wissenschaft, die als Naturforschung uns die Welt schöpferisch nahegebracht hat, weil der Naturforscher von der Wirklichkeit der Dinge und Lebewesen berichtet, zur ersatzweisen Deutung der Welt, die gar nicht mehr so ist, wie wir sie wahrnehmen, sondern "wie sie in Wirklichkeit ist" (wie wir sagen, und damit doch ein ganz anderes Wirkliches, ein Reales, ein Relationales höchstens also, meint, in dem die Welt nach dem Pariser Urmeter oder der Wiener Elle vermessen und neu kartographiert wird.

Was das bedeutet, welchen Verlust das mit sich brachte, ist gar nicht abschätzbar. Es ist nämlich nicht, wie der an dieser Art der technischen Weltordnung geschulte, von ihr geprägte Mensch meint, unbedeutend und höchstens ein subjektives, objektiv aber bedeutungsloses Erleben. Das auch eine Kinokarte oder ein Hamburger bei MacDonalds ersetzen könnte. Es ist die Welt selbst, die uns verloren geht!

Wenn das aber der Fall ist, dann, spätestens dann fällt sie ins Nichts. Weil wir ihr immer und immer ausschließlicher auf eine völlig falsche und inadäquate Weise begegnen, und sachlich (!) falsch mit ihr umgehen. Ohne das noch zu merken. Denn sagt nicht das Metermaß: "Wir haben doch alles richtig gemacht!?"

Eine solche Welt muß ins Sinnlose und Irrationale fallen. Muß ins Zufällige und Sinnlose, in keiner kosmischen, in der Dynamik des Absoluten verhangenen und von dort ausgehenden Ordnung nicht mehr verortbare, bloß nur noch subjektiv-willkürliche und zufällige "Gefühl" entschweben. 

Und eine solche Welt wird zur tiefsten Bedrohung für den Menschen, sodaß sie umso fester ans Maß des Zollstocks, die geeichte Asch für die Milch, den gesetzlich geregelten "IST-Zustand" gebunden werden muß. Wo ihr die mit Präzisionsgeräten angelegten Stricke der Totalkontrolle, die alles Vage, Lebendige, Dynamische und Überraschende - damit jede Beziehung, die immer ein Fenster zum unberechenbaren, ungeschuldeten Geistigen und Zeitlosen ist - entwindet, um dem Brustkorb den letzten Atem und Spielraum auspressen und die künstliche (aber so berechenbare) Atmung das Leben vertreibt.

Wenn wir diese Bilder vor Augen haben, erscheint uns nicht dann diese heutige Welt von Strukturen getragen, die die Welt formieren - und sich das Material, das Füllsel, "als" was sie erscheinen (Pandemie, Weltverglühen, Ressourcenende, Überbevölkerung, die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen) fast beliebig suchen. Das sie angeblich konstituiert, ha. 

Es ist doch vielmehr so, daß der Verlust der Welt die ungesättigten Bindungskräfte, die aus uns sprechen hätten wollen aber nicht durften, ihre Darstellung (und in allem Sein geht es um Darstellung, das ist ihre einzige Kraft: Darstellen, um vor Gott zu loben) samt deren Geschichte auf andere Weise ersetzen wollen. Und deshalb ... Geschichten erfinden. Die alle glauben weil glauben müssen, und so den Rang eines Mythos hat, den aber keiner mehr greifen darf.


*010921*