Rätsel Mensch. Aus einem winzig kleinen Mißgeschick - die Frau hatte beim Aufstehen vom Stuhl für den Gang aufs Klo meinen Stock umgeworfen - hatte sich binnen weniger Minuten ein wunderbares Gespräch entwickelt. Und während wir die erste halbe Stunde über die Tische hinweg über Gott und die Welt geredet hatten, hatte ich denn doch noch einen Stuhl genommen und mich in die Nähe des Ehepaares aus Bochum gesetzt.
Selbstverständlich war er Vertriebenennachkomme, der eine Westfälin geheiratet hatte. Ostpreuße wie er im Buche steht, man hört das sofort an der Aussprache, samt auf -ow auslautenden (das ist nicht nur slawischer Art, sondern heißt eigentlich sogar "von". Und erinnert darin an früher, ganz früher, denn da war eben der Mensch noch Adeliger, jeder, vom Paradies her, denn der Mensch ist König, wie + Hl. Johannes Paul II. es in zahlreichen Büchern schrieb, und das Neue Testament ständig sagt). Familiennamen, und eine gute Stunde lang fanden wir uns in einem Einmut, der mich weniger, sie aber ordentlich überraschte, ja verblüffte.
Wir hatten einfach nur übers Leben gesprochen. Über Kinder, Menschen, Alltäglichkeiten und doch auch nicht, über Erfahrungen mit renovierten Städten und Geschäften und Geschäftsleuten und den gleichen Beobachtungen bei ehemaligen "Ostblockbewohnern", ohne viel Persönliches zu verraten, wir wußten auch noch bald eineinhalb Stunden kaum etwas voneinander, nicht einmal den Beruf. Obwohl ich schon vorhin bezahlt hatte, war bald das zweite Cola ebenfalls leer. Weil sie die Fähre von Fertörakos nach Ilmitz erwischen mußten, die letzte an diesem Tag, und dann noch weiter nach Podersdorf fahren mußten, und es schon gegen halb vier war, beschlossen wir "langsam aufzubrechen", die Frau dränge.
Die einerseits die viel tiefere Haltung einer Sympathie zu mir entwickelt hatte, die fast schon erotische Spannung enthielt (ich bemerkte es daran, daß sie immer ruhiger wurde, und ihr Blick sich in so etwas wie "Realismus" verschattete, in dem sie dem nicht nachgehen wollte, was sie jetzt zu fühlen begann, denn sie war verheiratet, basta.) Die anderseits durch ihre immer öfter eingeworfenes "Schatz, wir müssen dann ..." die Vernünftigere geblieben war.
Wie oft sind das die Frauen, sie tragen ihren Herd gewissermaßen immer mit sich herum, während der Mann in die Wälder am Rande des Weges streift, die der Wagen nimmt, den sie steuert - war es "aber nun wirklich" so weit. Sie wollte nur noch rasch aufs WC und dabei zahlen, ich legte wie immer meinen Geldschein unter die Colaflasche.
(Die kleinen, gerillten, nur dann trinke ich Cola, wenn es diese Fläschchen gibt. Wolfgang Köhler hat ja bestätigt, was unserer Erfahrung entspricht: Flüssigkeiten wie überhaupt Elemente verändern ihre elektromagnetischen Eigenschaften mit der Veränderung der Form, und die Coke schmeckt aus diesen ganz ganz ursprünglichen Flaschen unvergleichlich besser als das Geschloddere, das aus den Zapfhähnen kommt, die aus faßähnlichen Containerballons gespeist werden, ja ist eine kleine Delikatesse).
Kaum also begannen wir uns zumindest innerlich mit dem Aufbruch abzufinden, froh über dieses Geschenk von Begegnung aus heiterem Himmel, in dem wir einen ungemeinen Gleichklang der Herzen erlebt hatten, der in der Beurteilung des realen Lebens heute, in dessen Veränderungen in dem letzten dreißig, vierzig, fünfzig Jahren ganz weitreichend einer Ansicht waren, in welchem Gleichklang auch der wohltuende Freimut da war, in der größte Selbstverständlichkeit sogar über religiösere Themen (natürlich waren sie Protestanten, die sich nun im Katholenland wußten oder das für möglich hielten), oder die Sonntagsmesse oder Kirchenglocken und deren Bedeutung im Alltag zu sprechen, in dieser Aufbruchsstimmung also begann plötzlich der Mann, von Politik zu sprechen.
Wir hatten bisher dieses Thema nicht nur vermieden, sondern waren quasi stillschweigend überein gekommen, daß die Politik es nicht lohnte, und hatten das aus ganz kleinen Berührungen vollzogen, in denen wir an das Thema ganz ganz leicht angestoßen waren, um uns aber gleichen Sinnes sofort davon abzuwenden. Es geht ums Leben, nicht um Merkel oder Spahn.
Ich hatte schon glückliches, dankbares Fazit vor Gott gezogen, daß ich wieder einmal erlebt hatte, wie sehr die Menschheit eins wäre, solange sie auf der wirklichen Lebenserfahrung steht, auf der Realität des wirklichen Lebens, in dem geheiratet, geliebt, gehaßt, geboren, gestorben wird, auf dem was also so richtiges Leben ist, das man unaufgeregt und ernst und mit Humor, aber keineswegs oberflächlich, im Gegenteil, nein, gar nicht unreflektiert, aber mit großem Realismus "als liebe Gewohnheit" (wie ich unter Hinweis auf Mosebach, der das in einer Erzählung verwendet, das Leben bezeichnet hatte) bewältigt, auch als Ausgestoßene, wie es die Neuankömmlinge weil nach 1945 Vertriebene im sogenannten Westen waren, da begann er aus mir völlig unerfindlichem Grund von .. Putin zu sprechen. Von Putin!
Nicht ein einziges Mal war der Name Merkel oder was weiß ich ... Trump oder Bush oder Biden oder ... gefallen, nicht ein Mal in zwei Stunden, nicht ein einziges Mal war über die Niederungen der Politik gesprochen worden, und sogar die zwei-, dreimal, die er "Orban" erwähnt hatte, waren nur beiläufig gewesen, ich war nicht einmal darauf eingegangen. Kein einziges mal.
Und plötzlich fängt er über Putin zu sprechen an.
Er. Nicht ich. Ich habe kein Wort dazu gesagt, ich schwör's: NICHT EINS. Und es war auch im Gespräch zuvor nie um Putin, Rußland oder Außenpolitik gegangen, nie. Nur ein paar Worte zur EU waren gefallen, er hatte sich als Fan geäußert, weil er die Reisefreiheit so schätzte in der man (wie er mit seiner Frau am Tag zuvor) einfach so nach Bratislava (das er brav in Preßburg deklinierte, das Poszony war ihm freilich dann nicht mehr eingefallen, und ich wollte mich nicht als Ungarnspezialist aufspielen.)
Was heißt über Putin sprechen. Innerhalb - ich schwör's - innerhalb einer schwachen Minute war er wie verwandelt. Als wäre etwas in ihn gefahren, begann er plötzlich und aus heiterem Himmel und in einer fast beängstigenden, fanatischen Verkrampfung über Putin zu sprechen, über die Krim genauer gesagt, und daß "DAS NUN SCHON MAL ÜBERHAUPT NICHT GEHE. ABER SCHON MAL ÜBERHAUPT NICHT GEHE. WAS DER PUTIN DA GEMACHT HATTE, UND DASZ DAS ABER SOWAS VON NICHT GEHE; UND WIE DER DENKE, WIE DIESER PUTIN DENKE, ALSO DAS SEI IHM... UND WIE DIESER DENKE, DIESER PUTIN!
Ich blickte betroffen, von dem fanatischen Umkippen meines Gegenübers überrascht zu Boden. Die Frau war noch im Lokal, wir standen schon, bereit aufzubrechen. "Ich weiß nicht wirklich, was dieser Putin denkt," sagte ich ganz ruhig, und so einfach wie nur möglich. Dabei dachte ich sofort an die Interviews mit Oliver Stone, die ich mir alle die 9 oder 11 oder 15 Stunden genau angehört hatte, den Notizblock vor mir. Ob der Bochumer das auch gemacht hatte? Nur das, nicht alles andere?
Egal. Ich verabschiedete mich. Nun, wo es ums Händeschütteln ging, war er wieder lockerer geworden, und mit freundlichem Winken und unter ihren nachklingenden Beteuerungen, daß es "soo nett, so überraschend, so lebendig, soooo nett" gewesen sei, ging ich dieses, die jenes Weges, den zu ihren Rädern, zur Fähre, ich weiß, und Fertörakos ist ein gutes Stück, und um halb fünf geht das letzte Schiff nach Ilmitz, ich weiß.
Was ist das. Lange dachte ich dann noch darüber nach. Eine ungefähre Ahnung stieg in mir hoch. Als wäre etwas aus den Schienen gesprungen bei dem Mann. Und zwar mit einem Wimpernschlag.
War ihm etwas bewußt geworden? Etwas, dessen er nicht ansichtig werden wollte? Etwas, das ihn - mehr noch also - in Widersprüche zu etwas brachte, das in seiner alltäglichen Lebensweise seinen so unveränderlichen, aber auch schuldhaften Niederschlag fand, und in das er nun wieder zurücksteigen mußte, später, dann, am Weg nach Fertörakos, und dann auf den letzten Kilometern im Seewinkel, von Ilmitz nach Podersdorf?
Vorhin habe ich bei Gustave Thibon eine Passage gefunden, die es treffen könnte. Es geht darin um Folgendes: Der einfach wunderbare Franzose, mit dem ich so eine tiefe Seelen-, nein, mehr noch Geistesverwandtschaft fühle, wobei ich mich eher als Schüler, ihn als Lehrer sehe, vor allem in der Selbstverständlichkeit, in der er es wagt über die Welt aus seiner ganz ganz eigenen Sicht zusprechen, ein Mut, den ich in manchen Berichten immer noch nicht ganz habe, sodaß Thibon manchmal etwas anspricht, das ich genau so sehe und fühle, davon aber erst weiß, wenn er davon spricht, weil ich es einfach geheim gehalten habe, dieser Franzose und Katholik aus dem Burgund, der die Einfachheit und Geschlossenheit des Lebens in ländlichen Kleinstädten und Dörfern, mit ihrem natürlichen Rhythmus, den Jahreszeiten, nicht einfach nur geschätzt, sondern als eine der oft noch sehr intakten Bäche und Flüsse wirklichen Lebens dankbar entgegen nehmen lehrt, also - dritter Anlauf - dieser Franzose schreibt da auch über etwas Seltsames bei den Menschen.
Thibon schreibt da auf einer knappen halben Seite des schmalen Büchleins, daß es doch seltsam sei, daß die Menschen gerne schlecht behandelt sein wollen. Nichts versuchen sie mehr zu vermeiden als jemanden, der ihnen Wohltaten stiftet, während sie mit einer kaum und gar nicht zu lösenden Verbissenheit an jenen festhalten, die sie ausnützen, ausbeuten, bedrücken und knebeln. Nichts bringt sie davon ab, weiterhin die Dienste jener in Anspruch zu nehmen, nichts kann sie abhalten jene bis aufs Messer zu verteidigen - zu dumm oder zu feige, wer weiß das - deren Unersättlichkeit als Unterdrücker sie so schädigt.
So viele, schreibt Thibon, die ihren Arzt oder einen Mann des Gesetzes mit einem Heiligenschein versehen, die sie nur geschädigt haben, denen sie aber unverbrüchliche Treue wahren.
Warum ist das so!? Es kann dafür fast nur die Erklärungsschiene geben, die auch Thibon befährt. Daß die Menschen ihren Glauben an die Güte des Schicksals verteidigen, daß sie den Schock fürchten, um den sie ahnen, der sie befallen würde, wenn sie die Augen öffnen sollten. Und in dem ihnen klar wird, daß sie NICHT zu den Bevorzugten Gottes gehören, in denen ihnen alles gelingt und zum Besten gereicht, was ihnen zustößt. Sie fürchten die Entmutigung und Bitterkeit die sie befallen würde, wenn sie die Realität des Lebens zur Kenntnis nehmen müßten, wie tief alles von Lüge getränkt, von Verschwendung entstellt, und in Unordnung durcheinandergerüttelt ist ...
So viele Opfer könnten vergeblich sein, die sie gebracht haben, weil sie getäuscht wurden. Ist es dieser Heiligenschein, den sie dem Bösen umhängen, eine Art, den Verlust auszugleichen, den sie erlitten haben und erleiden? Der sie nicht glauben lassen will, daß ihr armseliges Geld, das so schwer zu verdienen war, in reinem Verlust dahingeht, ohne auch nur irgendeinen Gewinn daraus gezogen zu haben (man darf dabei gar nicht an die Spargroschen denken, meine ich, sondern es genügt der Gedanke an all die Abgaben, Steuern die man schon geleistet hat und leisten muß, und die die Politik mehr und mehr auf eine Weise verwendet, in der diese riesigen Gelder vollkommen - ich betone: Vollkommen! - verloren sein werden, ohne daß auch nur irgendetwas übrigbleibt, von dem man sagen könnte: na gut, das wenigstens haben wir davon, wenigstens das. Nichts wird bleiben.
Ist das zu hart, um es zu überstehen? Oder ist es schon wieder diese Weichheit, in die wir uns lullen haben lassen, in der wir nun jeden noch so kleinen Schmerz vermeiden wollen, und alles preisen und loben, was uns die Bewahrung dieses dicken Kokons aus Zuckerwatte, in den wir uns eingerollt haben, gewährleistet. Unendlich sind die Möglichkeiten, in denen sich die Leute einreden, daß ihr Ausbeuter ein Spiel treibt, bei dem sie gewinnen ...
Wie froh bin ich jetzt, jetzt erst so richtig, daß wir das Coronathema vermieden haben, und zwar völlig. (Ja, werter Leser, es geht! Man kann sich zwei Stunden intensiv unterhalten, ohne ein einziges Mal über Corona und Impfung zu sprechen). Ich denke jetzt, wo ich das schreibe, daß er handgreiflich hätte werden können, wenn er gehört hätte, daß ich nicht geimpft bin. Zwei oder drei Bier hatte er ja auch schon intus, und wer weiß, was er zum Mittagessen schon gezwitschert hatte, ist ja Urlaub, und er nicht im Auto, sondern nur im Fahrrad - über weite Strecken auf ausgebauten, geschützten Fahrwegen - unterwegs. I
Ich habe jedenfalls das Bild vor mir, wie ich mit der blutigeren Nase, aber den kräftigeren Armen ihn im Schwitzkasten halte, wo er furchtbar schreit und stöhnt und schließlich japst weil so tut, als kriegte er keine Luft und hofft, daß ich ihn nun loslasse, damit er mich wieder auf die Nase schlagen kann. ("Na? Corona?" rufe ich ihm aber höhnisch zu, und lasse NICHT los.)
Spätestens jetzt, zumindest fällt es mir jetzt erst auf, sehe ich, daß sie auf meinem Rücken gesprungen ist und mich mit dem einen Arm umklammert, um mit dem anderen mit der Köhlerschen Colaflasche auf meinen Hinterkopf einzuschlagen. Während sie "Polizei! Rettung! Feuerwehr!" und "Schwuaääin, do Unköimpfdös (sie hatte irgendwas mit Dresden, ich hab es vergessen)! Egoüsd, dröckögöa (oder war es Holstein? Ja, Holstein glaube ich)!" schreit, ehe ich sie abschütteln kann. Mann, brömmäd - äh natürlich: brummt - mir heute der Schädel. Ihr "Säggßßischd ählöndäa!" ist das letzte, an das ich mich noch erinnere, ehe ich - angeblich - bewußtlos umgefallen bin. Scheiß CBD-Tropfen. "Mutti," war angeblich das letzte, was ich gesagt habe. Wahrscheinlich irgend so ein Nahtoderlebnis, liest man ja ständig davon.
Ja, so könnte es bei diesem Bochumer gewesen sein. Der mit diesem - noch einmal: Wie aus dem Nichts kommenden - Ausfall, in dem er wirkte, als wäre ein Dämon in ihn gefahren, plötzlich, nachdem ihm eineinhalb, zwei Stunden (auch ich war längst zu spät dran, ich wollte doch noch auf die Post, der Geldschalter würde jetzt jeden Moment zu sein, ich wollte doch noch die Gasrechnung erledigen) die Welt vor Augen gestanden war, wie SIE WIRKLICH IST. Wo er eineinhalb, zwei Stunden einen Blick in sein Sehen und Denken gemacht hat, in dem ihm bewußt geworden war, wie er wirklich dachte.
Nun, am Weg zurück, begann sich die alte Welt aber wieder zu melden. Die, in die er kommen wird, sobald er in Podersdorf und schon gar in Bochum zurück ist. Die seiner Bekannten, Freunde, ehemaligen Arbeitskollegen, Kinder, Cousins und Großtanten aus Halichterrade. Die in einem Sprach- weil Sprechsumpf steckt, in dem alles sich irgendwie zäh dahinwälzt, sich alle Sätze von selbst bilden, man nie mehr auf die Sprache hinter der Sprache schaut, weil man sonst so alleine zu werden befürchtet. (Und allen geht es ebenso, aber niemand spricht darüber, da müßte so viel an Vertrauen bereits da sein, wie man es aber nicht einmal Gott gegenüber aufbringt.)
Und in dieser Welt gehört er einer Gruppe an. Wo sich die Zugehörigkeit durch einen gemeinsamen Feind, eine gemeinsame Ablehnungsfront, eine gemeinsame Lüge (was immer man über Putin sagen kann, und ich sehe ihn lange schon als Feind, aber ausgerechnet in der Sache der Krim hat er aber sowas von recht bzw. sich sowas von nichts zu schulden kommen lassen. Aber diese Lüge wird von der Merkelpartei seit Jahr und Tag und Woche erzählt, auf, ab, wieder und wieder. Die Leute glauben sie nicht. Aber sie halten sie fest wie einen Schild, den man ihnen reicht, und in dem sie zu einer Gruppe gehören, überhaupt irgendwo dazugehören. Indem sie die Einsamkeit überwinden, und mit jemandem GEMEINSAM sein können.
Sie sind es nicht, und sie wissen das, ganz tief da drinnen, da wissen sie es. Aber sie wollen es gar nicht wissen, und keiner will das. Wenn das am Jüngsten Tag ist, und da wird es allerspätestens der Fall sein, reicht das immer noch. Der ist so weit weg, bleibt man in dieser Welt. Wörtlich.