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Donnerstag, 17. März 2022

Ab wannen man es nicht mehr merkt

Irgendwann einmal verliert man das. Irgendwann verbohrt man sich so in einen Teilast, daß man jede Verbindung mit dem Grund verliert. Der einem erst einordnen ließe, welchen Stellenwert was hat, und wie deshalb alles Einzelne zu beurteilen wäre. WAS ES ALSO IST. Und dann merkt man auch nicht mehr die Widersprüche in dem, was man sagt, und zu denken vorgibt, um den Hintergrund zum Vordergrund zu beweisen.

Irgendwann merkt man es nicht mehr, daß wenn die Lebensstrukturen zerstört sind, das Leben nicht einfach um ein paar Stückchen geringer wurde, die man irgendwann schon wieder in die Waagschale legen kann, sondern das GANZE Leben ins Nichts fällt. Dauert das längere Zeit, dauert das zwei, drei Jahre, bei drei auf jeden Fall, löst es sich sogar auf. Werfel zeigt in "Die 40 Tage des Musa Dagh" sehr gut, was passiert, wenn das Leben verschwunden ist. Einige Zeit hält sich alles noch mehr oder weniger, einige Zeit halten auch neue Notziele wie "das Überleben". Aber irgendwann bricht es, und von einem Tag auf den anderen bricht Elend aus, wo vorher nur Not und Einschränkung war. Man hört auf, sich ordentlich zu kleiden, man hört auf Umgangsformen zu pflegen. 

Und zwar mehr als mit diesem "Maaaske aufsetzen, wenn ich bitten darf! Na, über die Naaaase!!! Sooo!" mit dem einen - je mehr aus den untersten Chargen, die Lehrmädchen, die Kassiererin, die Regaleinschlichterin im Supermarkt, die Stinkvettel vom Kirchenchor mit der grauenhaften Stimme, die potthäßliche Verkäuferin im Friedhofskerzen-Laden, desto mehr, desto brutaler, desto unhöflicher, desto liebloser, desto häßlicher, will mir scheinen - ohnehin bereits an Unhöflichkeit, an Kulturverlust, an Verlust der Zwischenmenschlichkeitj fortlaufend zugemutet worden war. Was für geile junge Politiker natürlich kein Problem ist, denn die haben ja ihre Ski-Wochenenden und Almhüttengaudi, man gönnt sich ja sonst nichts, die haben ja ihr volles Leben, man muß verstehen: Immer im Dienst, sozusagen. Denn jede Wette, auch das Leben des Herren da im Bild ist SEHR anders als das, was er anderen vorschreibt und zumutet.

    Oder glauben Sie, er hat die Absurdität noch bemerkt?   
Es ist mittlerweile vermutlich schon egal, wann sie wie ALLES WIEDER ÖFFNEN. Das Leben, das dann als NORMAL stattfinden wird, wird keine Luft mehr haben. Vieles wird sich aufgehört haben, völlig von selbst, und das wird vor allem das sein, was einen kleinen (noch mehr aber, was einen großen) Funken Mühe gekostet hat. 

Der Theaterbesuch. Der sonntägliche Gottesdienst. Der Besuch bei diesem und jenem. Das Treffen beim Jägerwirt an jedem Samstag Abend. Das Durchtragen des Unternehmens weil seinen Sinn noch einmal aushalten, noch einmal aufbauen was an Kundenanbindung verloren ist. Noch einmal Mitarbeiter suchen.

Pubertäre Rotzbuben, die derzeit auffällig an den Rudern sitzen, in Frankreich, in Kanada, in Österreich, in Deutschland, Ahnungslose, Junge ohne Leben und überhaupt solche, die ihr Leben nur noch der Politik verdanken, nie etwas anderes gemacht haben, keine Berufs-, keine Lebenserfahrung haben, oder einfach zu dumm oder dumm-korrupt sind, die in Teilabläufe und Ablaufoptimierungswahn verloren, haben das Leben plattgewalzt

Ein NORMAL wird es wieder geben. Ein sehr gleichgültiges Normal freilich. Eines, in dem einen nichts mehr wirklich kümmert, denn Apathie wird die neue Allgemeinhaltung sein. Die Pizza wird bestellt, der Film auf Netflix gebucht, und Gott ist ja auch am Balkon, wenn man zwei Minuten in die Sonne glotzt und der Amsel zuhört. "Da ist meine Gotteserfahrung," sagt dann Gusti beim Skypeinterview. "Eine Kirche brauch ich nicht." Und die Interviewer nicken großzügig angesichts solch tiefer Spiritualität. 

Ein gar nichts brauchen wir noch.

Man hat es irgendwann einmal nicht mehr gemerkt, irgendwann war das Tote, das Reduzierte, die Mangelware das Normale. Dann werden die apokalyptischen, grauen Bilder in grauenhaften Hinterhoflandschaften und Vorstadtslums zum Alltag gehören, wie es die Filmemacher ja schon seit längerem immer häufiger in den Herzen haben, und die Bilder die sie herstellen, mit diesem Todesgeruch durchwirken. Und wie es die Revolutionäre, die allerorten aus ihren Löchern gekrochen sind, schon lange allen an den Hals gewünscht haben.