Der Verdacht erhärtet sich immer mehr, daß hinter den meisten Süchten keineswegs "körperliche Abhängigkeitserscheinungen" stecken, sondern geistige Bilder, Urteile, Vorstellungen wie "etwas sei". Denn diese Bilder von den Dingen selbst sind dem Erkennenden immer zugleich Imperative, ihnen zu gehorchen (!) ist das Wesen des Ethischen, weil wir uns auf das hin überschreiten.
Oder sind wir nach Wasser "süchtig", nur weil wir es keinen Tag ohne es aushalten?
Stattdessen haben sich - möglicherweise aus dem puritanischen Geist - regelrechte Hysterien gebildet, die bestimmte Verhaltensweisen zu unausweichlichen Gesetzen der Materie erklären.
Wenn man aber einmal erfahren hat, daß in dem Moment, wo das Verlangen nach einem Bier nur als das gesehen wird, was es ist - ein Verlangen nach einem Glas oder fünf Gläsern Bier, oder nach etwas Beschwipstheit, oder nach einem Rausch - wacht man am nächsten Morgen mit einem Kater auf, den man einfach als das sieht, was er ist: ein Kater, und den man auch in seiner unangenehmen Wirkung wahrnimmt. Worauf man es einige Zeit wieder vermeidet, ihn sich zuzufügen. Oder, in geringen Stufen, die Klarheit im Kopf einfach zu sehr schätzt, um sie (und eines gesamte Präsenz und Lebensweise) permanent durch Alkohol zu trüben.
Aber selbst das ist niemandem einfach zu verwehren, wenn er sich in einer Lage befindet, die er als unerträglich erachtet, sich in Permanenz zu betrinken, um durch Selbsttrübung ein Ertragen überhaupt erst ermöglichen. Welcher Außenstehender könnte das beurteilen?
Stattdessen befinden wir uns in einem gewaltigen Wald von Normen, die uns auf eine gewisse Standard-Existenz bringen sollen, und das je nur individuelle Leben auf jeden Fall unzulässig abstrahieren. Und damit zu Moralgeboten macht, was bestenfalls Ausdruck eines Üblichen ist, nicht aber Initiation des Individuellen.
Nichts anderes ist vielfach die Fettleibigkeit, die Freßsucht (oder ihr
Gegenteil, die Magersucht). Sie fällt - genauso wie der Wahn zu meinen, ein Mensch müsse so und so schlank sein, sonst sei er nicht "gut", ja das ist überhaupt ihr Ausgangspunkt.
Und was immer heute im Wochenrhythmus an
neuen Krankheiten "auftaucht", deren Einschätzung sich fast ebenso rasch wandelt. Der Dschungel, der mittlerweile errichtet ist, ist kaum überhaupt noch zu entwirren. Fast ausnahmelos ist jede dieser Pflanzen schon auf einen ersten Blick hin gekennzeichnet
von einem mechanistischen Menschenbild, das auf jeden Fall irrt, und
auf groteske Weise "hier Krankheit - dort Medizin" zu definieren behauptet.
Aber
gibt es überhaupt eine Krankheit, die einfach so "für sich" steht? Ist nicht jede Kranheit ein Syndrom, das in einer nie wirklich definierbaren personalen Mitte ansetzt? Wobei hier keineswegs den genauso unzählbaren, immer irgendwie psychologisch-spirituellen, weltanschaulichen Theorien und Methoden Vorschub geleistet werden soll, die die Schulmedizin zu ersetzen vorgeben. (Geistigkeit des Menschen ist NIE Methode, ist nie methodisch erreichbar, das nur so nebenher gesagt.)
Darin befindet sich eine der größten Gefahren der heutigen Medizin überhaupt, und im besonderen der Psychologie/Psychiatrie. R. D. Laing, in den USA einer der bedeutendsten Psychologen des 20. Jhds., in Europa erschreckend unbekannt, hat sich deshalb immer wieder dagegen gewehrt, die "Schizophrenie" überhaupt als Krankheitsbild zu sehen, das begrifflich umgrenzt defniert wird, und damit aber die je individuelle, in viele Partialerscheinungen,, -probleme und -lösungen zerfallende Befindlichkeit eines Menschen verkennen, ja das eigentliche Problem dieses Menschen verdrängen läßt.
Damit wird mit der Behandlung die Krankheit selbst geschaffen. So, wie der Alkoholismus durch die Diagnose entsteht, und in den allermeisten Fällen sogar seine "Behandlung" - als Reintegration in einen ganz normalen Lebensvollzug - erschwert oder verunmöglicht. Dazu sei neuerlich auf die großartige Arbeit Ludwik Flecks hingewiesen, der auf diese gefährliche Entwicklung, die die gesamte Wissenschaft (nicht nur die Medizin) erfaßt hat, als Grundaussage seiner Arbeit hinweist: daß sie dazu neigt zu vergessen, daß sie das, was sie vorfindet, überhaupt erst durch ihre Begriffe zu einem Phänomen gemacht hat, das sich sehr leicht zu einem Abstraktum, zu einem Ding an sich verabsolutiert, dessen eigentliche Wirklichkeit man immer mehr übersieht.
Wir wollen hier keine endgültige Stellungnahme dazu formulieren, aber die Richtung andeuten, in die wir das Problem vieler, wenn nicht der meisten Krankheiten, immer deutlicher laufen sehen.
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