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Sonntag, 7. Oktober 2012

Umgebung als Lebensaffizierung

Der Boden ist der erste Punkt, den der Mensch in der Geburt erfährt (wenn nicht schon vorher). Auf ihn bezieht sich jeder weitere Moment seiner Existenz. Damit wird die Bedeutung der Architektur erfaßbar, die nicht einfach mehr oder weniger ästhetizistische Funktionsweiche ist, sondern unmittelbar das Lebensgefühl der Menschen an- und aufruft. Weil Menschen aber aus Selbstgefühl reagieren, handeln, agieren, formt Architektur das zum Habitus werdende Gemüt, und trägt so zur Lebenssteigerung bei (oder nicht), als die jedes Tun des Menschen, jedes Begehren das er zu stillen sucht - darunter das erste: das der Selbstbewegung, weil Leben ALS Selbsterfahrung nur in der Bewegung zu sich kommt* - zu sehen ist.

Weil aber Architektur selbst bereits wieder auf die vorgefundene Welt reagiert, interagiert, ist das primär Prägende die Landschaft, sie ist das zuerst Vorgegebene. Man muß ja beileibe kein Tiefenpsychologe sein, um die Zusammenhänge zwischen Landschaften und den in ihnen vorgefundenen Charakeren zu erkennen. Und weil kein Mensch "bei Null" beginnt, sondern in vorgefundenes Erbe - auch fleischlich - eintritt, prägt sich so gewisse charakterliche Geschlossenheit und Bezüglichkeit zur jeweils in einer Landschaft lebenden Menschen.

Deshalb ist auch Walter Muschg's Kritik an Josef Nadler in "Die Zerstörung der deutschen Literatur" schlicht falsch, und er wirft sie unberechtigt in einen Topf mit "Blut und Boden-Ideologie". So sehr aus diesen Zusammenhängen Ideologie werden kann, wo aus dem Vorgefundenen Imperativisches wird. (So mag man meinetwegen die letzte Auflage seiner monumentalen Literaturgeschichte, jene die 1938 in Weiterführung entstand, bereits unter deren Eindruck sehen - was sich übrigens in einer gewissen "Kriterienlosigkeit" ausdrückt, in der Nadler kaum noch auswählt, sondern die damalige Gegenwartsliteratur fast kritiklos aufnimmt; darin mag man sie also kritisieren, gut; aber seine eigentliche Leistung schmälert das nicht, nehme man eben die Ausgabe 1929/30, die sich ja auch in der letzten fast lückenlos aufgenommen findet.)

Sehr wohl hat aber Landschaft und Mensch jenen Bezug, der sich in "stammhaftem Gefüge" (Nadler) ausdrückt: als Mentalitäten, als Bezug eines landschaftlich (in etwa) abgrenzbaren Organismus zur Welt, zu den übrigen "Stämmen". Soweit sie auf den übrigen Sprachraum ausgreift tut sie es "als" geburthaft regionale Literatur.**

Sodaß sich auch kulturelle Eigenheiten ausdrücken, die für Nadler bemerkenswerte Schlüsse auf die Entwicklung der Literatur (bezogen auf die Rolle der Sprache) ermöglichen. In der sich auf den gesamten Sprachraum bezogen klare Positionen ausmachen lassen, sodaß sich das Bild der gesamten deutschen Literatur nur vor dem Hintergrund dieser Spannungsfelder ausmachen und verstehen läßt.



*(Was wichtige Implikationen die Kunstrezeption betreffend hat)

**(Das nicht zu tun könnte man vielfach der Gegenwartsliteratur vorwerfen, die selten noch von einem Selbstsein ausgeht, sondern sich unmittelbar an einen abstrahierten, bodenlosen Gesamtsprachraum richtet, deshalb nicht zufällig dort erfolgreich ist, wo sie in "Ereigniszentriertheit" einfach raumlos und damit abstrakt charakterlos ist, nicht selten eine Persönlichkeitsstruktur in ihren Figuren aufweist, die selbst bereits abstrakte Fiktion ist, oder sich in inneren Wortgeräuschen erschöpft, also gar keine Welt mehr trägt. Und ihre Leser dort findet, wo diese Zweitwirklichkeit einer Sprache, die gar keinen Boden mehr findet, bereits dominierendes Selbstelement ist.)


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